Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 13. Dezember 1999, Heft 25

Zwangsarbeiter

von Thomas Kuczynski

In einem seiner berühmt-berüchtigten Tischmonologe hatte der »Führer und Reichskanzler« gemeint, »man müsse nur einmal errechnen, wieviel dadurch gewonnen würde, daß der ausländische Arbeiter statt […] RM 2000 wie der Inlandsarbeiter nur RM 1000 jährlich verdiene.« Die Frage ist im Grunde sehr einfach zu beantworten: Wenn man mehr als vier Millionen Menschen ein Jahr lang für sich arbeiten läßt, gewinnt man mehr als vier Milliarden, und wenn man das vier Jahre lang tut, dann gewinnt man mehr als sechzehn Milliarden. Aber offenbar erschien diese Antwort auf eine so simple Frage als zu einfach – zu einfach, daß jemand gewagt hätte, sie zu geben.
Es geht dabei nicht um die insgesamt aus Zwangsarbeit resultierenden Einnahmen und Gewinne, sondern allein um jene, die über denen lagen, die damals durch den Einsatz deutscher Zivilarbeitskräfte üblicherweise erzielt wurden. Es geht um das, was auf der Einnahmeseite als zusätzlicher Gewinn der Unternehmen beziehungsweise des deutschen Staates verbucht worden ist. Da die auf Seiten der beteiligten Unternehmen gemachten zusätzlichen Gewinne aus der Ausnutzung des staatlich verordneten Menschenraubs und des staatlich verordneten Sozialunrechts (sogenanntes Soziales Sonderrecht) resultierten, sind sie, juristisch betrachtet, als Hehlergewinne zu qualifizieren.
Die Entschädigungsansprüche werden also aus den wirtschaftlichen Resultaten der geleisteten Zwangsarbeit abgeleitet, und zwar unabhängig davon, ob die Anspruchsberechtigten heute noch am Leben sind oder nicht. Ein anderes Herangehen würde, um es ganz deutlich zu formulieren, die Zahlungspflichtigen nachträglich dafür belohnen, daß auf dem Wege der »Vernichtung durch Arbeit« viele der Zwangsarbeitskräfte mittelbar und unmittelbar umgebracht worden beziehungsweise an den späteren Folgen schon verstorben sind. Insgesamt sind im »Dritten Reich« während des Zweiten Weltkrieges vierzehn bis fünfzehn Millionen KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilpersonen aus den okkupierten Ländern nach Deutschland verschleppt und zur Arbeit in deutschen Wirtschaftsunternehmen gezwungen worden. Die nach Deutschland Verschleppten haben insgesamt über 21 Millionen Jahre in deutschen Wirtschaftsunternehmen gearbeitet, präziser: 64 Milliarden Stunden – ein Volumen, für das nach den damaligen Arbeitszeitregelungen über 26 Millionen Deutsche ein ganzes Jahr hätten arbeiten müssen. Genauso viele von ihnen waren tatsächlich 1940 in der deutschen Wirtschaft beschäftigt. 64 Milliarden Stunden, von deutschen Zivilarbeitskräften geleistet, hätten, nach den damaligen Lohnsätzen, mehr als 36 Milliarden Reichsmark gekostet. Durch den Einsatz der Zwangsarbeitskräfte wurden über 16 Milliarden Reichsmark eingespart. Das war zwar nicht ganz der von Hitler anvisierte Satz von 50 Prozent, aber es waren doch immerhin 44,5 Prozent.
Am einträglichsten war der Einsatz von KZ-Häftlingen und sowjetischen Kriegsgefangenen, hier konnten über 75 Prozent der Kosten gespart werden. Am »teuersten« waren die zivilen Zwangsarbeitskräfte aus Westeuropa, denn dort konnten »nur« 30 Prozent der Kosten gespart werden. Von den genannten 16 Milliarden Reichsmark gewann die öffentliche Hand über 6 Milliarden beziehungsweise 37,3 Prozent, und zwar allein durch überhöhte Steuern, durch neu eingeführte Sondersteuern sowie durch die von den Unternehmen eingeforderten Gebühren für die Überlassung von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. Aber auch die Wirtschaftsunternehmen der öffentlichen Hand konnten immerhin 2,66 Milliarden beziehungsweise 16,4 Prozent der zusätzlichen Gesamteinnahmen auf ihren Konten verbuchen. Noch davor rangierten allerdings die privaten Industrieunternehmen, die fast 5 Milliarden oder mehr als 30 Prozent vereinnahmen konnten, und auch die privaten Agrarunternehmen gingen mit 1,8 Milliarden zusätzlicher Einnahmen oder 11 Prozent vom Gesamt nicht gerade leer aus.
In der Industrie ging Hitlers Rechnung ziemlich genau auf : 49,1 Prozent dessen, was deutsche Zivilarbeitskräfte gekostet hätten, wurden in den Unternehmen als Gewinn beziehungsweise in der Staatskasse als zusätzliche Einnahme verbucht , Arbeitsjahr für Arbeitsjahr 1 134,85 Mark pro Person. Solche Beträge konnten in der Landwirtschaft nie erreicht werden, denn sie lagen weit über dem, was deutsche Landarbeiter und Landarbeitsmädchen je erhielten. Aber immerhin, es waren fast 300 Mark, die Jahr für Jahr vor allem, nämlich zu über 70 Prozent, in die Taschen der Unternehmen flossen – 300 Mark oder 32 Prozent der Summe, die Zivilarbeitskräfte aus Deutschland gekostet hätten.
Schon diese wenigen Daten zeigen, daß die deutschen Privatunternehmen wie auch die öffentliche Hand in nahezu unvorstellbarem Maße an den nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräften verdient haben. Um das Maß vorstellbar werden zu lassen, müssen die in Reichsmark berechneten Beträge in Deutsche Mark umgerechnet werden. Im allgemeinen wird für solche Umrechnungen der von der deutschen Bundesbank berechnete RM-DM-Kurs von 1 : 5,9 verwendet. Hiernach wären die im Text nachgewiesenen 16 230,5 Millionen RM äquivalent einem Betrag von 95,76 Milliarden DM. Diese Summe wäre der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft zur Verfügung zu stellen.
Allerdings bezieht sich dieser Kurs auf einen allgemeinen Preisindex, während Löhne ein sehr spezifischer Preis sind, erst recht vorenthaltene Löhne, bei denen zumindest die Frage zu stellen ist, ob sie nicht, dem allgemeinen Schuldrecht entsprechend, mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen sind. Die Frage ist aber nicht an die Statistik zu richten. Diese hat vielmehr die Frage zu beantworten, wie in RM vorenthaltene Löhne in DM auszuzahlen sind, und dafür bietet die amtliche Statistik zwei Möglichkeiten der Umrechnung an , den Index der Lebenshaltungskosten und den Lohnindex selbst. Der Lebenshaltungskostenindex steht, 1940 – 1944 gleich 1 gesetzt, heute bei 1 : 5,64 (also etwas unter dem allgemeinen RM-DM-Kurs), projiziert allerdings den Kriegsstandard in die Gegenwart– was jenen gegenüber, denen die Löhne über 50 Jahre lang vorenthalten worden sind, ein höchst ungerechtes Verfahren wäre, insbesondere wenn wir bedenken, daß mit den vorenthaltenen Löhnen über fünfzig Jahre lang höchst gewinnträchtig gewirtschaftet worden ist.
Der Lohnindex selbst steht, 1940 – 1944 gleich 1 gesetzt, bei 1 : 21,92 (also sehr viel höher), projiziert allerdings den Gegenwartsstandard in die Vergangenheit, was ebenso falsch wäre, da der heutige Lebensstandard eben nicht der von vor 50 Jahren ist. Zwischen diesen Extremen angesiedelt wäre ein Umrechnungsfaktor von 1 : 11,121. In diesen Durchschnitt gehen Kriegs- und Gegenwartsstandard im Verhältnis 2 : 1 ein, und das wäre wohl eine brauchbare Kompromißvariante. Ihr entsprechend wären der Stiftungsinitiative rund 180 Milliarden DM zur Verfügung zu stellen.
Um diese Summe in eine richtige Relation zu stellen, sei daran erinnert, daß allein das Nettogeldvermögen aller Haushalte dieses Landes auf fünf bis sechs Billionen DM zu schätzen ist. Davon besitzen die obersten zehn Prozent etwa die Hälfte. Ohne auch nur einen Blick auf die Sachvermögen zu werfen, die ein Vielfaches der Geldvermögen betragen und in noch höherem Maße konzentriert sind, ist zu sehen, daß die 180 Milliarden, von denen hier die Rede ist, etwa drei bis vier Prozent des gesamten Geldvermögens ausmachen, sieben Prozent von dem, worüber das oberste Zehntel allein an Geldvermögen verfügt. Mit dem Blick auf das Gesamtvermögen sind die 180 Milliarden weniger als ein Prozent dessen, worüber das oberste Zehntel verfügt. Ist das bei diesem furchtbarsten Erbe deutscher Geschichte schon zu viel verlangt?

Die vollständige Fassung dieses Textes erscheint unter dem Titel »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ›Dritten Reich‹ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne« in »1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts«, Heft 1/2000.