Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26

Realitätsferne Wirklichkeiten

von Martin Nicklaus

Einst, er befand sich auf dem Gipfel seiner Macht, verkündete der Staatenlenker Dr. Helmut Kohl: »Die Wirklichkeit sieht anders aus als die Realität.« War da Sauerstoffknappheit aufgrund extremer Höhe im Spiel? Aber vielleicht ging ihm gerade Paul Watzlawicks Frage »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« durch den Kopf. Oder ihn beschäftigte eine Überlegung Gerhard Roths: »Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht. Sie ist damit Teil der Realität und zwar derjenige Teil, in dem wir vorkommen. Dies ist eine höchst plausible Annahme, die wir allerdings innerhalb der Wirklichkeit treffen und die nicht als eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Realität mißverstanden werden darf.« Demzufolge wäre Sloterdijk zu widersprechen, der gerade behauptete, Schröder leide nicht an Realitätsverlust, er genieße ihn. Roth folgend müßte vom Verlust der Wirklichkeit gesprochen werden, die aber keineswegs verlorengeht.
Genaugenommen liegt Sloterdijk grundsätzlich falsch, denn der Kern von Macht besteht gerade darin, seine Sicht der Wirklichkeit gegen jeden Widerstand und selbstverständlich auch gegen die Realität durchzusetzen. Jüngst versuchte beispielsweise Wolfgang Clement durch Beschimpfung von Hilfebedürftigen eine Wirklichkeit zu schaffen, bei der die in seinem Hause geschönten Zahlen und seine falschen Annahmen bei der Einführung von Hartz IV von der Betrachtung ausgeschlossen bleiben. Clement malte uns die Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft als Feinde. Eine andere Propagandaoffensive aus seinem Ministerium hieß Teamarbeit für Deutschland und verschlang einen zweistelligen Millionenbetrag. Da liegt der Trend. Politiker, anstatt ordentliche Arbeit abzuliefern, beauftragen lieber Werbebüros oder Imageberater, die sie in genehmes Licht setzen, eine Scheinwelt zimmern. Eichel gab für seine Außendarstellung 640 000 Euro aus. Steuergelder versteht sich. Wir werden nicht nur verblödet, wir zahlen das auch.
Bereits Platon der sich der Realität mit seinen absoluten Ideen von »dem Guten«, »dem Wahren«, »dem Gerechten« annäherte, kämpfte gegen die, zu seiner Zeit Sophisten genannten, Scheinweltbauer. Deren bedeutendster Sprecher Protagoras erklärte, sämtliche Wahrnehmung sei subjektiv, geleitet von Begierden, Gefühlen und Nützlichkeitsdenken. Tunlichst unterließ er, die Erkenntnis von Wirklichkeit auf Aspekte wie Wissen, Erfahrung und Vernunft zurückzuführen, wodurch sein Menschenbild animalisiert wurde. Der Mensch: etwas Dressierbares.
Doch die alten Athener wußten noch, was sie an einem Sophisten hatten und schickten Protagoras zum Teufel. Der reagierte umgehend, überschwemmte die Welt mit Sophisten, und als erster Erfolg gelang ihnen, eine Wirklichkeit zu schaffen, in der der Aufklärer Sokrates, zum Verführer der Jugend umgedeutet, hingerichtet wurde. Später folgten dem Schierlingsbecher für Sokrates das Kreuz für Jesus, der Scheiterhaufen für Giordano Bruno, drei Kugeln für Mahatma Gandhi, das Fallbeil für Sophie Scholl.
Heute steht Sophisterei hoch im Kurs. Logisch, wurde sie doch in Form von Reklame zur Basis unserer gesellschaftlichen Kommunikation. Aus dieser milden, deshalb aber nicht weniger giftigen Form der Propaganda erwuchsen Mitte der Neunziger die große und tumbe Bewegung des Positiven Denkens, zu deutsch des Doofseins. Getragen wurde diese Bewegung von Gurus wie Jürgen Höller, der den in Hundertschaften herbeigekarrten Institutsbelegschaften von großer Bühne verkündete: »Du bist ein Adler« und »Alles ist möglich, du mußt es nur wollen«. Dazu reichlich Brimborium, Lametta und Ringelpietz, fertig war eine Motivationsshow. Es ging zu wie beim Heißmachen vor Fußballspielen, von denen irrtümlicherweise gesagt wird, sie würden im Kopf entschieden. Spiele werden ausschließlich auf dem Feld entschieden, denn die Wahrheit liegt auf dem Platz. Aber genau dorthin wollen uns die Sophisten nicht lassen. Sie halten uns in der Kabine, in Platons Höhle, wo sie die Schatten an der Wand nach ihrem Wohldünken deuten. Wer von uns kurz nach draußen gelangt und hinterher von der Sonne erzählt, der … siehe: unter Sokrates, Jesus, Bruno.
Als führende Schattendeuter heutiger Tage etablierten sich zwei Bewegungen. Zum einen die ideologische Variante Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Sie sendet – als Experten getarnt – Sprecher in verschiedenen Veranstaltungen und ist sich auch nicht zu fein, ihre flachen Botschaften in Fernsehserien wie Marienhof unterzubringen, um eine den Arbeitgebern angenehme Wirklichkeit zu erzeugen.
Flankierend arbeitet die Motivationskampagne Du bist Deutschland. Nach dem Prinzip Gehirnwäsche wird dem deutschen Du mit kraftvollen Bildern und per hirnlosem Manifest erklärt, was es alles ist: ein Teil von allem, ein Laden, eine Hand, alle anderen, ein Flügel, ein Baum und eben Deutschland. Nur eines ist Du nie: ein selbstständig denkender, verantwortungsvoller, liebender Mensch, sondern immer nur Massenteil. Dazu paßt das Bild von Einstein, dessen sich die Kampagne bedient. Der wurde von Deutschen, die noch richtige Massedeutsche waren, außer Landes getrieben. Fehlt bloß noch: »Heute bist Du Deutschland und morgen die ganze Welt«.