Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25

Leibniz Lövenix

von Michael Reuter

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Im Brockhaus schaut er unter zeitgemäß riesiger Perücke hervor: klug und unerreichbar. Andreas Scheits hat ihn so gemalt, 1703. Da war Leibniz schon Präsident der 1700 auf sein Drängen hin gegründeten Societät der Wissenschaften in Berlin, hatte in Paris mit dem Physiker, Mathematiker und Astronomen Christiaan Huygens, in Delft mit dem Naturforscher und Linsenschleifer Antony van Leeuwenhoek und in Voorburg mit dem Philosophen Baruch Spinoza einige der herausragenden Männer des 17. Jahrhunderts getroffen, war in London in die Royal Society und in Rom in die Mathematische Gesellschaft berufen worden. Er ist Doktor der Rechtswissenschaften, hat eine Rechenmaschine entwickelt und – zeitgleich mit Isaac Newton – das Infinitesimalsystem, seine Veröffentlichungen gelten philosophischen, mathematischen, politischen, historischen, juristischen und sozialen Problemen, und später wird man ihn als einen der wenigen wirklichen Universalgelehrten der Menschheitsgeschichte preisen.
Und seltsamerweise auch immer mal wieder »vergessen«. Weshalb es der Potsdamer Lyriker, Erzähler, Theater- und Drehbuchautor (unter anderem des DEFA-Films Reife Kirschen) Manfred Richter unternommen hat, ihn mit einem Roman in die Erinnerung zurückzuholen. Und zwar mit einem in barocker Prallheit erzählten. Legende Lövenix ist dessen Titel, und in der Unterzeile steht: »Ein ungesicherter Bericht über die Liebe und anderes Merkwürdige im Leben des Gottfried Wilhelm Leibniz«.
Das Ungesichertste in diesem ergötzlich zu Papier gebrachten Bericht ist – natürlich – die Liebe. Zu Françoise, der Comtesse de Villette, die den jungen, in Kur-Mainzer diplomatischem Auftrag nach Paris reisenden Leibniz so mit lieblicher Leiblichkeit »entzaubert« wie sie ihn mit kluger Neugier betört – und: ausspioniert für De la Reynie, den Pariser Polizeidirektor. Und vor allem und überhaupt zu Soscha: zu Sophie Charlotte, zunächst Prinzessin von Hessen-Darmstadt. Mit einem frechen »Paß auf, Dämel« der Sechsjährigen, die, auf der Treppe im kurfürstlichen Palais hockend, dem zwanzig Jahre Älteren ein Bein stellt, beginnt die traumhafte Geschichte. Mit einem unbekümmerten »Ich hab Mama gesagt, Ihr sollt in allen Dingen des Lebens mein Lehrer sein. Ich will Euch zum précepteur« und einem doppelsinnigen »Ich werde älter und – komme Euch näher« der Heranwachsenden nimmt sie ihren Fortgang. Und mit einem hastig-heimlichen »Nichts ist zwischen uns als ein Reifrock und ein Beinkleid« der eigentlich anderweitig – sprich: standesgemäß – Versprochenen mündet sie in ein aufrührendes, aber nie zur endlichen Erfüllung gelangendes Glück.
Aber als er dies beichtet, der dem Siechtum verfallene Leibniz, im »vornehmen Eckhaus der Witwe Lüde« in der hannoverschen Schmiedestraße im »Ohrensessel am Kamin« gefangen, »ein Greis, von Schmerzen gepeinigt, nahezu blind«, die Knie »in eine merkwürdige Konstruktion gepreßt, eine Art Holzzwingen, die er fest anziehen kann, um die Schmerzen der Krankheit durch einen anderen Schmerz zu betäuben«, da »kräht« Eckhart, der Sekretär, dem das Notieren der Erinnerungen des Alten aufgetragen ist, »böse und heftig dazwischen, ›Nein und nochmals nein! Das kann ein Mensch nicht schreiben‹«, und: »›Ihr sprecht von der nachmaligen Königin in Preußen, der Schwester des Königs von England! Was für eine maßlose Phantasterei!‹«
Der Zwischenruf, der Widerspruch: Das ist die verschmitzte, an der Drehbuch-Erfahrung geschulte Methode, mit der Richter das bei aller Zweifelhaftigkeit doch Erahnbare an den Leser bringt. Leibniz, mal deprimiert, dann wieder hochgestimmt, erzählt; der Sekretär, von Leibniz nur derb »der Stockfisch« geheißen, gibt dann und wann seinen gar nicht feinen, aber immer treffsicheren Kommentar dazu; Leibniz reflektiert über diesen. Und dann ist da mit wenigen Sätzen auch immer noch Magdalena: die Frau, die ihm den Haushalt führt, seit er sie einst aus der Bedrängnis gerettet hat, und die ihn nun hegt und pflegt und »den Nachtstuhl« heran holt und »nach frischen Binden geht« für die gequälten Beine, ihm »den hellen, stachligen Flaum von Kinn und Wangen herunter schabt« und ihn füttert mit »Kraut und klein geschnittenem Fleisch« und ihm die Hände hält in seiner Not. So formt sich das farbenkräftige Bild eines Mannes, von dem der Physiker Hans-Jürgen Treder in einem dem Roman beigegebenen Geleitwort sagt, daß er alles bis dahin Gedachte »in ein einheitliches Weltbild« aufgenommen habe – ein Weltbild, »das aber nicht wie ein Monolith in philosophischer Landschaft steht, sondern Raum schuf für Veränderung, für eine schöpferische Weitergestaltung bis in unsere Gegenwart.« Es formt sich dieses Bild über die Schilderung abenteuerreicher Kutschreisen durch ganz Europa, über einfühlsam erzählte, das Suchende und Aufklärerische in Leibniz‚ Wesen verständlich machende Begegnungen mit den bereits genannten Großen seiner Zeit und über lebenskluge Sätze wie diesen: »Die Historiker und Marktschreier beurteilen Geschichte, statt sie zu erfahren. Und so, aus gutem Grunde, übersehen sie nur allzu gern den irrenden Menschen, der liebte und weinte, schwitzte und zweifelte.«
Richter wendet sich ihm ganz zu, diesem »irrenden Menschen«, gibt nach bestem Wissen und Gewissen seine eigenen Einsichten und Irrtümer hinzu und darf seinen Helden darum nach schlaflosem Grübeln in plötzlicher Hellsichtigkeit resümieren lassen: »Die Gründung der Akademie wird Bestand haben, wird gelobt werden als hohes Werk – und hat doch mit der Liebe begonnen und mit sonst nichts. Soscha!«.
Und warum – zu guter Letzt – »Lövenix«? »Sie messen«, erzählt der Sterbende, »mich drüben im Schloß an der Zahl meiner Kirchgänge. Die waren selten, ich gesteh es. He glövt nix, heißt das in ihrer Mundart, sie haben daraus den Lövenix gemacht.«

Manfred Richter: Legende Lövenix. Ein ungesicherter Bericht über die Liebe und anderes Merkwürdige im Leben des Gottfried Wilhelm Leibniz, trafo Verlag Dr. Wolfgang Weist Berlin, 374 Seiten, 18,80 Euro