Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 24. Oktober 2005, Heft 22

Wartburgs Botschaften

von Eckhard Mieder

Seit zwei Tagen steht in meiner Straße ein Wartburg Kombi, ein verlotterter Wagen. Seine Radkästen rosten, die Kühlerfront ist leicht eingedrückt, die Reifen sind porentief verschmutzt. Im Fahrraum stapeln sich Rohrteile, Kartons mit Broschüren. Der Wartburg hat noch eine Lenkradschaltung und stammt aus der Zweitakterzeit. Aus meiner Zeit. Aus jener Zeit, über die ich kürzlich von einer Dame aus dem Bereich der Politischen Bildung hörte: daß es sich um die Zeit der Unmoderne handle, um die entschleunigte Zeit. Jetzt sei ich angekommen in der Moderne (oder Postmoderne?), in der die Zeit … Ich hab’s nicht kapiert. Anders tickt, so tickt, wie sie eben tickt, nur ich ticke nicht richtig. Wo sie schleuniger vergeht? Schleunigst?
Heute morgen sah ich, wie einer der wohltemperierten Anwohner seinen Lauf verlangsamte, als er an dem Wagen vorbeilief. Er schüttelte nicht den Kopf. Auch darf ich, der Wahrheit verpflichtet wie meinem Weibe, nicht von einem entsetzten Blick sprechen. Aber so ganz verstand er das Auto nicht. Nicht seine schmuddelige Anwesenheit vor seinem Zaun und unter der im Frühling wieder mit Blüten werfenden Kastanie.
Ein bizzarer Gruß, dieser Wartburg. Wer einen solchen fuhr, der hatte einiges Geld. In der DDR. Oder im Sozialistischen Währungsgebiet. Und er erfüllte den gleichen Zweck, dem offenbar auch dieses verluderte Exemplar folgt: dem Transport nicht nur von Menschen, sondern von Material, Werkzeugen und Nebenverdienstabsichten. Das Fahrzeug des Handwerkers – heuer das Fahrzeug eines Schwarzarbeiters? Polen? Oder Wetterauer?
Der Wartburg irritierte mich. Die brutale, nackte, schäbige Zurschaustellung einer Art, die doch ausgestorben ist. Ein Quastenflosser, von des es auch hieß, es gäbe ihn nicht mehr, bis sich ein paar Exemplare in den Netzen pazifischer Fischer verfingen. Ein Quastenflosser der Unmoderne?
Gelegentlich begegnet mir auf westdeutschen Straßen ein Trabant. Oder steht vor einem Frisiersalon oder einer Werkstatt. Wie ein Denkmal. Wie dieses Stück Berliner Mauer auf dem Vorplatz des Bahnhofes von Bad Neuenahr, eingemeißelt der Dank an die Helden von Prag, die Botschaftsbesetzer. (»Dazu gleich was, Johannes Tütenholz, alter Suppenkaspar und Aldi-Gänger! Weißt ja, ich bin der schaurigen Wirklichkeit Berlin-Niederschöneweides geflohen, nicht aber der Heimat im Geiste, aber nimmer und nirgends!« »Das haben schon viele gemault!«, antwortet Tütenholz und schickt mir sogleich, die Heimat nimmer und nirgends zu vergessen, mit nächster Elektronikpost ein Foto vom besudelten Erich-Weinert-Kopf am Ende der Flutstraße. Da, wo wir dereinst den Unterrichtstag in der Produktion begingen, und wo in einem Keller Bürsten gefertigt wurden, bis auch dieser Familienbetrieb enteignet wurde, damals, in jenen Zeiten der Zweitakter …)
Oder der Wartburg taucht, wie ein Quastenflosser im blauen Ozeane, im Talk auf. Wie neulich im Mitteldeutschen Rundfunk. Als der Leipziger Porsche-Chef, ein Chemnitzer Werkdirektor von einst, die Rührung kaum verbergen konnte. Immer, wenn er so einen sieht, so einen mit dem durchsichtigen Schiebefenster im Dach, dann fühlt er: Wie schön es ist, wenn jemand so ein Fahrzeug pflegt und erhält.
Aber Porsche fahren sei auch was Haptisches. Spontan hat der Mann zugesagt, einem behinderten Kinde, das nichts sehnlicher wünscht, als beim Zusammenbauen eines Porsches dabei zu sein, den Besuch zu ermöglichen. Ja, Johannes, über soviel Uneigennützigkeit hätte ich beinahe geweint.
Das Kennzeichen des Wartburgs in meiner Straße ist kurz: F-L. Die schickeren Autos (mit messagegeilen Besitzern?) heißen F-LY oder F-UN. Oder heißt sein L, daß der Fahrer aus Leipzig stammt?
Oder ist der Wartburg nur ein Schnäppchen der frühen neunziger Jahre, als der Ostmann gen Westen zog und bis zu zehnfach überteuerte Gebrauchtwagen kaufte? Nur um sich endlich den Traum zu erfüllen: einmal im Leben eine West-Schüssel unterm Arsch zu haben?
Da könnte ich eine Geschichte erzählen von einem, der Nationalpreisträger war (ist?) oder auch von derjenigen, die … Naja, Swamm over, wie mein Freund und Cartoonliebhaber Wolfgang jenes verzeihende Schwamm drüber! schon in den siebziger Jahren in die Sprache der Moderne respektive Postmoderne hob.
Oder ging, im Rätselfalle meines Wartburgs (ja er wurde schon fast meiner), da ein West-Mann den umgekehrten Weg?
Oder kam er aus Prag? In Prag ließen die DDR-Bürger, die über die Deutsche Botschaft in die Freiheit flüchteten, ihre Trabants, Wartburgs, Moskwitschs und Skodas einfach am Wegesrand stehen. Sehr zur Freude der Einheimischen, wie mir mal eine tschechische Cutterin erzählte. Auf Jahre hinaus füllten sich die privaten Ersatzteillager der Prager.
Einer der Flüchtling berichtete mir, wie er sich gleich nach der Ankunft in der BRD einen BMW zulegen konnte. Abgesehen davon, daß seine Kinder »vor Hülle und Fülle nicht wußten, was sie zuerst haben wollten«, denn: »Es gab alles, alles, Gummibärchen, Bananen, Apfelsinen …« O-Töne by him.
Dann, im Sommer 1999, die Zeit ordnete sich?, kriegte er die Nachricht einer tschechischen Behörde, er können seinen zurückgelassenen Wartburg wiederhaben. Gegen die Entrichtung von 5000 DM. 5000 Deutsche Mark! So viel an Kosten sei aufgelaufen: für Wartung, Pflege, Hege und Unterbringung. Da konnte der Flüchtling, einer der Helden des 89er Herbstes, nur rauh lachen. Und legte sich den nächsten BMW zu, den ersten hatte er im Suff in eine münsterländische Scheune gedonnert.
Noch immer fahren Wartburgs und Trabants über Deutschlands Straßen. Oder stehen herum. Vor einem halben Jahr entdeckte ich einen Trabant im Regal eines Gemüsegroßhändlers in Frankfurt. Ganz oben. Gelb, eine autogewordene Zitrone.
Der Mann, der den Wartburg fährt, wollte mit mir nicht reden. Ich dachte schon was in Richtung DKP oder Grüner oder irgendeine Sekte, deren kollektives Endziel der Herr Schrott ist. Nix. Der Mann schichtete in seinem Wartburg (ja in seinem, meiner war das nicht! Niemals!) die Materialien um und hatte kein Ohr für mich. Brabbelte irgendwas, ein Irrer, klar ein Irrer. Postmodernes Irresein! Wer fährt schon noch so eine Karre?

P.S. Es gibt einen Film, der die panisch flüchtenden Scharen von DDR-Bürgern zeigt. Sie stürmen den Zaun des Botschaftsgartens in Prag. Eine Einstellung zeigt eine junge Frau, die erst versucht, einen Kinderwagen auf das exterritoriale Gebiet zu wuchten. Dann überlegt sie kurz und – läßt den Wagen fallen. Immerhin war er leer. In der nächsten Einstellung steht ein alter Mann, ein einheimischer Spaziergänger. Mit der einen Hand auf einen Krückstock gestützt, hält er in der anderen, vorgestreckten, einen Schuh. Jemand muß einen Schuh verloren haben. Jemand muß mit nur einem Schuh in der Freiheit angekommen sein. Aber braucht es nicht zwei Schuhe zum Laufen? Rechts und links stürmen sie an ihm vorbei, und er steht da, den Schuh in der Hand. Da habe ich Petrus gesehen. Den Felsen.