Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 24. Oktober 2005, Heft 22

Die Gegenwart der Steinzeit

von Martin Nicklaus

Daß der Turmbau zu Babel an plötzlich ausbrechender Sprachverwirrung der beteiligten Bauleute einst gescheitert sein soll, klingt unglaubhaft – insbesondere für Kenner der Berliner Baustellenszene. Vielmehr stoßen solche Mammutprojekte an Grenzen, deren Überschreiten zwangsläufig ins Verderben führt. Seien diese Grenzen nun durch Gott gesetzt, oder sei es so, wie Rudolf Bahro einst dozierte, daß die Natur Monstrositäten verabscheue.
Danach wäre, da die Kometeneinschlags-Theorie inzwischen als widerlegt gilt, das Aussterben der Saurier sehr einfach erklärbar: Die Riesen fraßen um sich rum alles kahl, trampelten danach die Reste platt und bedeckte sie mit Exkrementen. Ob der ausgezeichneten Bedingungen wuchs die Herde, was die Verwüstung verstärkte, bis sie sich einmal um die Erde gefressen hatten. Da standen sie nun wieder vor ihren eigenen Ausscheidungen, die ihnen keine Nahrung mehr boten. Damit war die Selbstausrottung perfekt.
Zur Huldigung ständigen Wachstums , also der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, wurden internationale Charts geschaffen, in denen die abwegigsten Faktoren miteinander verglichen werden, nämlich die Wachstumsraten. Gemessen an ihnen brummte 2004 in China die Wirtschaft (9,2 Prozent), während sie in Deutschland darniederlag (1,6 Prozent). In realen Zahlen pro Kopf sieht das allerdings anders aus. Da erwirtschaftete jeder Deutsche viermal mehr Wachstum als ein Chinese. Das gesamte Bruttoinlandsprodukt Chinas beträgt knapp zwei Drittel des deutschen, und umgerechnet auf die Bevölkerung ist die Leistung Chinas noch viel mehr zu relativieren. Hier steht es 350 zu 14.
Obwohl Deutschland Exportweltmeister und drittgrößte Wirtschaftsmacht der Erde ist und dessen Wirtschaft mit Ausnahme der Jahre 1993 und 2003 in den vergangenen zwei Jahrzehnten ständig wuchs, werden die Mittel angeblich immer knapper, muß – außer bei Managergehältern und Konzernsubventionen – überall gespart werden. Für einen wirklichen Aufschwung und einen Abbau der Arbeitslosigkeit sei ein Wirtschaftswachstum von über drei Prozent vonnöten.
So sagt das ein Okunsches Gesetz genannter Glaubenssatz. Der aber gilt schon insofern als widerlegt, als selbst die Schrödertruppe in den ersten Jahren nach der Regierungsübernahme die Arbeitslosigkeit senkte, ohne je die drei Prozent zu erreichen. Dagegen wuchs die Arbeitslosigkeit zu Beginn der siebziger Jahre bei Wirtschaftswachstumsraten über vier Prozent. Derzeit finden Deutsche, vom Kellner über den Rohrleger bis zum Arzt, in der um 1,6 Prozent erstarkten Volkswirtschaft der Schweiz neue Stellen – während den Polen eine Rate von 5,6 Prozent nichts nutzte; die Arbeitslosigkeit stieg dort ebenfalls. Noch drastischer ist die Entwicklung in den USA. Dort wuchs trotz aller wirtschaftlichen Erfolge die Gruppe der Armen um 1,1 Millionen auf 37 Millionen.
Letzten Endes geben weder das Bruttoinlandsprodukt noch dessen Wachstum verläßliche Auskunft über die soziale Lage der Bevölkerung. Deshalb schlug der Ökonom und Nobelpreisträger von 1998 Amartya Sen die Einführung eines Ungleichverteilungsfaktors vor.
Sogenannte Glücksforscher haben im übrigen herausgefunden, daß sich mit steigender Wirtschaftsleistung keine Steigerung des persönlichen Glücksempfindens verbindet. Das ist insofern einsichtig, als – anders als der erste – der dritte Fernseher es nur in sehr geringerem Maße vermag, das Wohlsein zu steigern. Immer häufiger versorgen wir uns mit nutzlosem Überfluß.
Schon im Jahre 1962 benannte die amerikanischen Biologin Rachel Carson negative Folgen menschlichen Wirkens in der Natur (Der stille Frühling). Zehn Jahre später entdeckte der Club of Rom die Grenzen des Wachstums. Was wirklich miteinander korreliert, sind die Steigerung der Wirtschaftleistung und der Mehrverbrauch an Primärenergie. Weltweit wuchsen die Wirtschaftleistung 2004 um 5,7 Prozent und der Energieverbrauch um 4,3 Prozent. Wenn hier von Energien gesprochen wird, sind endliche, fossile oder radioaktive, gemeint. Der Ölvorrat beispielsweise reicht noch vierzig Jahre, errechnete BP. Und noch eine Korrelation: Pro Erdenbürger wuchs die überbaute Fläche um 0,1 Hektar.
Vielleicht sind die Fetischisten des unbedingten Wachstums nichts anderes als Steinzeitmenschen. Wer sich fragt, woher dieser manische, an eine Krebszelle erinnernde Zwang zum Wachstum rührt, bekommt bei einem Blick auf die stammesgeschichtliche Entwicklung zumindest eine Anregung. Vor 100000 Jahren entstand der Homo sapiens. Für ihn und seine Vorgänger Homo habiles und Homo erectus war Wachstum noch überlebensnotwendig. Je größer die Sippe, um so besser war man gegen Angriffe geschützt, konnte neue Gebiete erobern, größere Tiere oder Herden jagen, hatte einen weitreichenden genetischen und intellektuellen Pool. Vielleicht ist der Wachstumszwang nichts anderes als ein über Jahrtausende antrainierter instinktiver Reflex der Urgesellschaft, in der Erde und Ressourcen noch endlos schienen.
Soviel Pessimismus verlangt nach Musik: »Es ist folgerichtig, es wird so sein, goldene Türme wachsen nicht endlos, sie stürzen ein.« (Slime)