Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Landflucht der Kleinkunst

von Philipp Eins

Seit wenigen Jahren rumort es in der Peripherie Brandenburgs. Die Landkreise wehren sich gegen ihren Ruf, kulturell trostloses Pflaster zu sein. Bildhauer und Maler aus den Regionen gründen Netzwerke und Galerien, öffnen ihre Ateliers dem Publikum. Verschmähte Theaterregisseure und Schauspieler aus dem benachbarten Berlin gründen Kleinkunstbühnen zwischen Schorfheide und Oder. Viele der Großstädter geraten dabei ins Staunen. Während die einst glanzvollen Avantgardisten aus Prenzlauer Berg und Friedrichshain zunehmend erblassen, viele von ihnen unlängst im kulturellen Mainstream verschollen sind und die ersten Neo-Avantgardisten West-Berlin zum wahren Ost-Berlin ausrufen, etabliert sich im Land Brandenburg ein Hort für viele heimatlos gewordene Kunstakteure. Seit vorigem Jahr findet nun sogar ein von internationalen Gästen besuchtes Filmfest statt, in der fünfzig Kilometer nördlich von Berlin gelegenen Kleinstadt Eberswalde.
Ins Leben gerufen wurde das Projekt von dem Verein SEHquenz. »Unserer Meinung nach mangelte es an Filmkulturgut im Landkreis Barnim«, sagt die Vereinsgründerin Vivien Zippel, die selbst vor einigen Jahren von Berlin heraus aufs Land gezogen ist. »Viele Dokumentationen und Kurzfilme bekamen wir in Eberswalde überhaupt nicht zu Gesicht, weil mit ihnen kein Geld zu verdienen ist.« Kurz nach der Gründung des Filmvereins im Dezember 2003 veranstaltete die 29jährige Mitarbeiterin des lokalen Fernsehsenders TV-Eberswalde zusammen mit ihrem Kollegen, dem Kameramann Andreas Gläßer, sogenannte FilmKunstAbende. Einmal im Monat öffnet die alte Stadtkapelle ihre Pforten für Kurzfilme und Dokumentationen.
Im Herbst 2004 expandierte das Projekt, Vivien Zippel organisierte mit ihrem damals rund 25 Mitglieder starken Verein das erste internationale Filmfest der Stadt Eberswalde unter dem Motto Der private Blick. »Wir wollten beim ersten Mal das Thema nicht zu eng fassen, um unterschiedliche Blickwinkel zu ermöglichen«, so die Veranstalterin. Erlaubt war alles, was sich von den kommerziellen Ergüssen der Filmindustrie Marke Hollywood abhob. Über zweihundert Filmemacher reichten Beiträge ein, darunter Regisseure aus Thailand, Indien, Kanada und Rußland. Der Programmbeirat wählte 43 Filme für das Programm aus, die meisten Einsendungen handelten von persönlichen Augenblicken und intimen Momenten im Leben der Protagonisten. Große Namen fanden sich im Abspann nicht, hauptsächlich Nachwuchsregisseure und Studierende von Filmhochschulen. »Trotzdem war der Besucheransturm enorm«, »in den vier Tagen drängten sich rund 1500 Besucher vor unsere Leinwand. Einige von ihnen mußten wir sogar wieder nach Hause schicken, weil wir einfach keine Plätze mehr hatten.«
Vom Erfolg des ersten Filmfestes getragen stieg vom 15. bis 18. September dieses Jahres das zweite Filmfest unter dem Motto Was Du glaubst. Wieder erreichten den Verein mehr als zweihundert Einsendungen, diesmal aus 29 verschiedenen Nationen. »Wir arbeiten nicht mit geographischer Ausrichtung wie viele kleinere Filmfeste, sondern mit Themen«, heißt es beim Programmbeirat. »Das ermöglicht uns eine große Spannbreite.« Unterteilt wurden die Beiträge im »Internationalen Wettbewerb« in den Filmkategorien Dokumentarfilm sowie Kurz- und Experimentalfilm. Außerdem gab es den regionalen Nachwuchsfilmpreis PIGGY für junge Filmemacher bis neunzehn Jahre und den wettbewerbsfreien Themenabend Barnim. Rund siebzig Filme wurden gezeigt. »Wir haben dreizehn Tage ohne Pause gesichtet und weitere drei Tage hart diskutiert«, sagt Andreas Gläßer, der auch dieses Jahr im Programmbeirat sitzt. »Herausgekommen ist ein qualitativ anspruchsvolleres Programm als im Vorjahr. Angefangen mit sozialkritischen Meinungen über religiöse Glaubensbekenntnisse bis hin zum ganz persönlichen Glauben an sich selbst ist alles vertreten.«
Vivien Zippel wünscht sich für die kommenden Filmfeste weiterhin Besucher mit unterschiedlicher Herkunft. »Wir wollen nicht ausschließlich Fachpublikum ansprechen«, erklärt sie. »In Eberswalde werden die Filme der jungen Regisseure unmittelbar am Zuschauer getestet. Anschließende Gespräche mit dem Publikum sind ausdrücklich erwünscht.« Zu viel Erfolg sollte man den Initiatoren vorsichtshalber wohl nicht wünschen. Sonst verläßt das sympathische junge Filmfest eines Tages die holperige Bühne und versteigt sich auf aalglatt gebohnerten Brettern – wie viele seiner großen Geschwister.