von Pedro Fuentes, Montevideo
Als die Militärdiktatur (von 1973 bis 1985) in Uruguay endete, bedurfte es vieler Jahre, bis daran gegangen werden konnte, Wunden zu heilen. Auch bei uns lag, wie seinerzeit in der BRD, in bezug auf die Nazizeit, jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens über dem Lande. Die Täter suchten, sich der neuen Situation anpassend, ihre Taten vergessen zu machen; die Opfer, gedrückt durch Jahre tiefer Erniedrigung und unter dem Trauma überlebt zu haben, wo so viele ihrer Genossen ihr Leben gelassen hatten, schwiegen ebenfalls. Zwar beschloß das Parlament nach dem Sturz der Militärs die Amnestie aller politischen Gefangenen, doch als sich dann zwei Jahre später erstmals hohe Offiziere vor Gericht wegen Folter und Mord verantworten sollten, erklärte das Parlament die Straffreiheit für alle während der Diktatur von Uniformierten begangenen Verbrechen. Nur die linke Einheitsfront Frente Amplio und eine Minderheit der Blanco-Abgeordneten hatten dagegen gestimmt.
Die uruguayische Verfassung gestattet aber die Abhaltung von Plebisziten über vom Parlament beschlossene Gesetze. Dazu ist es notwendig, daß fünfundzwanzig Prozent der Wahlberechtigten mit ihrer Unterschrift ein Plebiszit befürworten. Gewerkschaften, soziale Organisationen, die Frente Amplio und eine Fraktion fortschriftlicher Blancos und Colorados sammelten die Unterschriften mit Daumenabdruck und Nummer des Wahlausweises. Trotz der berechtigten Angst der Bürger, Kopien der Unterschriften kämen an das Militär – ein hoher Offizier kam sechzig Tage in Arrest, weil er unterschrieben hatte – und trotz der Schikanen des Wahlgerichts, das wegen geringfügiger Abweichungen der Unterschrift diese annullierte, reichte es zum Plebiszit. Die Militärs erpreßten die Bevölkerung mit der Drohung eines erneuten Staatsstreichs, falls das Plebiszit erfolgreich sei und die Amnestie nicht aufrecht erhalten bliebe. Trotz der Panikmache stimmten in Montevideo 56,5 der Wähler gegen die Straffreiheit, doch im Landesdurchschnitt waren es nur 43,3 Prozent. Das war keine Sympathiebekundung für das Militär, sondern Furcht vor 65000 Bajonetten.
Erst mehr als ein Jahrzehnt danach begannen sich die Literatur und einige Medien mit dem Thema Diktatur zu beschäftigen. Jeden 20. Mai, dem Tag der Ermordung des Frente Amplio-Senators Michelini und des Ex-Parlamentspräsidenten Gutiérrez Ruiz (Blanco) durch ein uruguayisches Militärkommando in Buenos Aires, wurde ein Schweigemarsch durch die »18 de Julio«, die Hauptstraße Montevideos, veranstaltet. Waren zuerst vorwiegend ältere Leute dabei, so wuchs jene Kundgebung für »Wahrheit und Gerechtigkeit« in wenigen Jahren auf über fünfzigtausend an; drei Viertel waren Jugendliche, die zur Zeit der Diktatur Kinder gewesen seien mochten.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit berief Präsident Jorge Battlle 1998 eine Kommission für den Frieden, die nach den Verschwundenen forschen sollte; allerdings ohne das Recht, die Armee zu befragen. Battlle gelang es auch (zusammen mit dem Sohn des ermordeten Senators Michelini) die von einer Militärfamilie adoptierte Enkeltochter des argentinischen Dichters Juan Gelman ausfindig zu machen. Dessen Schwiegertochter, damals schwanger, war aus Buenos Aires entführt und nach ihrer Entbindung in einem Militärhospital in Montevideo ermordet worden. Die Ergebnisse dieser Kommission für den Frieden waren zwar das erste regierungsoffizielle Eingeständnis der unter der Diktatur begangenen Verbrechen, aber es bedurfte erst einer radikalen politischen Wende, um die Lawine der Aufklärung ins Rollen zu bringen.
Am 31. Oktober 2004 votierten 52 Prozent der Uruguayer für die erweiterte Koalition der Frente Amplio (EP.-FA.-NM.) und für den Sozialisten Dr. Tabaré Vázquez als Präsidenten. Am 1. März 2005 war die Regierungsübernahme und, wiewohl das Soziale Notprogramm für alle, die über weniger als zwei Dollar pro Tag verfügen, Vorrang hat, wurde zugleich auch das Problem der Verschwundenen energisch angegangen. Auf Anordnung von Tabaré begann ein Expertenteam mit Ausgrabungen in den Kasernenhöfen des 13. und 14. Kavallerieregiments, wo man Gebeine von Verschwundenen vermutet. Die Generalität war aufgeschreckt. Auf einem Treffen des Präsidenten mit den Kommandierenden Generälen der drei Streitkräfte versprachen diese, auch Nachforschungen über das Schicksal der Verschwundenen beziehungsweise über deren Gräber bei ihren Truppenteilen anzustellen. Sie bekamen eine Frist von drei Wochen. Jetzt liegt das Ergebnis vor – und ist umstritten.
Der Präsident erklärte, wesentliche Punkte seien unaufgeklärt geblieben, die Nachforschungen gingen weiter. Nur der Bericht der Luftwaffe ist einigermaßen komplett und gibt sogar einen zweiten, bis dato unbekannten Flug von Buenos Aires nach Montevideo zu, in dem politische Gefangene, spätere Verschwundene transportiert wurden. Der Bericht der Marine ist voller Widersprüche, der des Landheeres vage.
Inzwischen sind auch mehrere Prozesse gegen Zivilisten eingeleitet worden, das Straffreiheitsgesetz bezieht sich ja nur auf Armee und Polizei. Zum Beispiel ist der ehemalige Präsident Bordaberry wegen »Attentats auf die Verfassung« angeklagt, denn er hatte 1973 mit den Generälen gemeinsame Sache gemacht. Zudem ist er wegen Mitwisserschaft bei einer Militäraktion im April 1972 angeklagt, bei der acht unbewaffnete Kommunisten, die mit erhobenen Händen ihr Parteilokal verließen, erschossen wurden.
Sein Außenminister Blanco ist angeklagt, an jener Junta-Sitzung teilgenommen zu haben, die über Leben und Tod der Lehrerin Elena Quinteros entschied. Diese war bei ihrer Flucht auf das Gelände der venezolanischen Botschaft gelangt und von da von den Schergen der Diktatur gewaltsam verschleppt worden. Venezuela stellte ein Ultimatum: In 24 Stunden wird die Frau der Botschaft zurückgegeben oder die diplomatischen Beziehungen werden abgebrochen. Letzteres geschah …
Nun könnte man sich fragen, warum nicht das Amnestiegesetz für die Uniformierten generell aufgehoben wird. Juristisch wäre es möglich, zumal die Frente Amplio mit 52 Abgeordneten unter 100 und siebzehn Senatoren unter dreißig die absolute Mehrheit hat. Doch da das Gesetz durch eine Volksabstimmung zustandegekommen war, hieße das, ein für allemal das wichtigste Instrument, das die Uruguayer, besonders die Frente Amplio, gegen die Privatisierung staatlicher Unternehmen nutzten, zunichte zu machen: Wer würde dann noch seine Unterschrift geben oder an einem Referendum teilnehmen, wenn er wüßte, daß fünfzig oder sechzig Parlamentarier das Diktum von mehr als einer Million für ungültig erklären könnten. Nicht einmal die reaktionären Regierungen hatten das je gewagt.
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