Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Lokaltermin

von André Herzberg

Deutsche, hört auf zu jammern! So ein Plakat aus dem Dokumentarfilm Die große Depression, Deutschland 2005. Humor entwickelt nur, wer Identität hat. Also suchen wir danach.
Es war Sonntag früh, meine Freundin hatte vor Aufregung nicht schlafen können: Vergißt auch keiner, auf der Straße noch mit Spray die Stellplätze zu markieren? Hat jeder sein Kostüm? Werden alle pünktlich kommen? Sie kümmert sich in Weißenfels einmal im Jahr um den Schloßfestumzug. Freitags gab es schon den Mittelaltermarkt, Sonnabendvormittag ein Programm auf dem Schloßhof, und nun sollte Umzug sein. Als alljährlicher Höhepunkt, seit sechs Jahren.
Menschen haben offenbar ein Bedürfnis nach Verkleidung. Das Mittelalter hat Konjunktur, auch in Weißenfels. Auf dem Markt gab es verschiedenes Handwerk, Krieger, Musiker, für die Kinder ein Karussell, man wälzte sich im Stroh und sang unzüchtige und antiklerikale Lieder. Nur meine Freundin hatte sich nicht in eine Hexe verwandelt und flog auch nicht mit dem Besen über Weißenfels. Obwohl sie die Abendeinnahmen des Getränkestandes im hochgeschnürten Busen versteckte und das Schlüsselbund unterm langen Rock trug.
Als ich, ausgeschlafen, endlich ankam, war der Umzug schon durch die halbe Stadt bis zum Schloß gezogen. Neben mir rannte ein Opa mit Fotoapparat. Ich drängelte mich durch das Spalier. Ganz Weißenfels dabei, entweder im Kostüm oder am Rand. Dabeisein schien gesellschaftliches Renommee zu bringen.
Der Bürgermeister, auch verkleidet, begrüßte die Ankommenden. Es gab Wagen, Pferde, Spielmannzüge und die örtliche Unternehmen, die Eigenwerbung betrieben. Es wurde gelacht, sich zugerufen, erkannt, fotografiert.
Fanfaren schmetterten. Heinrich Schütz, der Komponist, Novalis, der Dichter, schritten würdig daher. Nonnen, Kutsche mit Bierfaß, Herzog August, der das Schloß erbauen ließ, Schüler des Gymnasiums, historische Handwerker, Hebammen (mit Kinderwagen und Babys), Schachfiguren vom Schachklub, Falkner mit Vögeln, Jagdhornbläser, Soldaten des Dreißigjährigen Kriegs, Ladegast, der Orgelbauer, Schusterjungen mit Werkstatt. Auf einer Litfaßsäule die Logos der (ehemaligen) Schuhfabriken. Die Feuerwehr paradierte (mit Modellen von einst und heute), die Feldartillerie, laut knallend gegen Gustav Adolf von Schweden aus dem nahen Lützen, Winzer von der Saale, Fischer, Hunde und ihre Freunde, Sportvereine. Zum Schluß waren sogar chinesische Drachen zu sehen, ja, die Welt kam nach Weißenfels.
Auffallend: Bis auf wenige Ausnahmen war das 20. Jahrhundert im Umzug nicht präsent – es fehlten die sogenannten Zwölf Dunklen Jahre wie auch die Vierzig Grauen Jahre danach. Hätten, fragte ich mich, sich die Weißenfelser nicht besser am 3. Oktober befeiert, dem deutschen Tag?