von Frank Hanisch
Was waren das noch für Zeiten, als in Wien zwischen der k.u.k. Hofbäckerei Demel am Kohlmarkt und der Konditorei im Hotel Sacher der Tortenkrieg darum geführt wurde, wer die Original-Sachertorte verkaufen dürfe?, denkt der Gast aus Deutschland wehmütig, der fast bis zur Bewegungsunfähigkeit an seinen köstlichen Mohnnudeln ißt, die ihn an die Sommerferien bei seinen sudetendeutschen Großeltern erinnern.
Unvorstellbare vier Generationen liegt die Zeit der großen Wohnungsnot zurück, als in Schichten geschlafen werden mußte und so mancher in Beisln und Restaurationen seine Wohnung nahm. Hier draußen im siebten Bezirk ist die Welt noch heil: Die Bedienung mit dem schweren Hüftleiden und dem wasserstoffblondierten Haar macht dem Herrn Ingenieur am Tisch unter der Lampe schöne Augen. Der Herr Ingenieur kehrt jeden Tag ein, um sein Schnitzel und seinen G’spritzten zur Lektüre der Presse zu verzehren. Die Dame, die jetzt kommt, hat ihren Tag im Büro hinter sich, muß vom Shopping verschnaufen, ihre Tageserlebnisse unbedingt mitteilen und durch kleinen Schmäh ausschmücken. Sie hängt deshalb die Designer-Sackerln an die Haken am Tresentisch, schließlich ist es ein frauenfreundliches Beisl, früher wurden da die Schirme und Hüte angehangen. Es ist erstaunlich, wie viele Frauen im Verlauf einer Mahlzeit aus der Küche in den Schankraum kommen, um sich an der Konversation zu beteiligen. Jeder kennt jeden und ist sofort im Gespräch miteinander.
Der Gast nebenan, dessen Hunderl brav unterm Tisch wartet, blättert in Heute, einem kostenlosen Blatt, das in U-Bahn-Stationen ausliegt und mittlerweile an Popularität bald die Krone – die Kronen-Zeitung, Österreichs Bild – übertrumpfen dürfte. Die großen Themen der Zeit bleiben nicht ausgespart: Mausi wurde von einem nicht ganz so bravem Hunderl gefährlich in die Hand gebissen. Mausi, das weiß jeder, ist nicht Nachbars Katze, sondern die Gattin von »Mörtel« Lugner, dem Baulöwen und Maitre de Plaisir des jährlichen Opernballs.
Ein paar Melangen und Große Braune später huschen am Westbahnhof, eskortiert von Polizeimotorrädern hunderte Inlineskater elegant die Mariahilfer Straße gen Zentrum. Eine ganz unpolitische Demonstration. Ganz anders damals, 1999/2000, die völlig unironischen Ringstraßendemos gegen die Beteiligung der Freiheitlichen (FPÖ) an der Regierung mit der bürgerlichen ÖVP unter Kanzler Schüssels Führung. Wer spricht heute noch von der FPÖ?
Breit ist der Gürtel, kaum kann man die Tafeln über den Bars und Geschäften erkennen. In roter Schrift sind hier die meisten. »Wien bleibt Wien« – stimmt. Der Wiener Gürtel hielt eben schon immer die Problemzone der Stadt zusammen. Belegte Plüschsofas stehen in fleischfarben ausgeleuchteten Hauseingängen. Leichtbekleidete Mädchen mit herzförmigen Gesichtern aus ruthenischen oder galizischen Dörfern und russischen Plattenbausiedlungen warten reglos zwischen parkenden Autos. In der Josephstadt nebenan ist im Pygmalion gerade der Reigen von Arthur Schnitzler zu Ende gegangen. Ein paar elegant gekleidete Paare überqueren den Gürtel.
»Wien soll nicht Chicago werden«, unvergeßlich bleibt dieser FPÖ-Slogan, danach schickten die Amerikaner ihre Rechtsanwälte los. Auf der anderen Gürtel-Seite erscheint die fast in Dunkelheit versunkene erste Einkaufmall Wiens, mit dem bescheidenen Namen Lugner-City. Dann kommen endlich zu Dutzenden die Bars und Musikbeiseln wie das Chelsea in den ausgebauten Bögen der hier oberirdisch verlaufenden Stadtbahn. Damit versuchte man in den Neunzigern den Gürtel etwas aufzuwerten. Jetzt sitzen hier die braven Jugendlichen aus den Vorstädten bei einer Brezel und einem Cuba libre und warten auf das wahre Leben. Ab und an bringt die Stadtbahn einen Schwung Zuzügler vom Donauinselfest heran. Sommer ist’s.
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