Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Ciucholandy

von Gerd Kaiser

Polen genießt die Sommersonne dieser Tage. Reich wie Arm wird ihrer teilhaftig. Sie gehört zu jenen Segnungen, für die – vorläufig wenigstens – noch nicht gelöhnt werden muß. In den allüberall wie Pilze nach einem warmen Sommerregen aus den Boden geschossenen ciucholandy gibt es natürlich nichts umsonst. Ciucholandy,  zu deutsch Klamotten-Länder, nennen die Polen jene Geschäfte, in denen gebrauchte Kleidung aus Deutschland oder Italien nicht nur Stück für Stück, sondern auch mal pfund- oder kiloweise verkauft wird. Hier kaufen die, bei denen das Geld hinten und vorne nicht reicht, ihre Zahl wächst stetig. Und das in einem Land, in dem Nationaleinkommen und Profite steigen. In einem Land, das mehr Geld als je zuvor für soziale Zwecke ausgeben muß. In einem Land, das zur NATO gehört und sich Truppen im Irak leistet und seit einem Jahr zur Europäischen Union gehört.
In diesem Ciucholand-Polen lebten nach Erhebungen des Zentrums zur Erforschung der Öffentlichen Meinung (CBOS) im März 2005 knapp fünf Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. Zu jeder dritten Familie gehört mindestens ein arbeitsloses Familienmitglied. CBOS ermittelte, daß jeder zehnte Pole über so wenig Einkommen verfügt, daß die Situation potentiell für ihn existenzbedrohend ist.
Dieses Polen ist, einem Sammelband zufolge, der jüngst unter dem Titel Polska trzaska/Polen erzittert die Befunde polnischer Journalisten der liberalen Gazeta Wyborcza für das vergangene Jahr zusammenfaßt, nicht mehr das Polen der Transformation zu Beginn der neunziger Jahre. Es ist, wie der aus dem Land gegangene und in England lehrende Wissenschaftler Zygmunt Baumann das Polen von heute nannte, das »Polen des Turbokapitalismus«.
Charakteristisch für dieses Land und die Landeskinder sind große Erfolge und große Karrieren unter den Bedingungen harter Konkurrenz, die zuvor unbekannt waren. Millionen Unterliegende in diesem Konkurrenzkampf werden zu »Globalisierungsabfall« beziehungsweise zu »Humanabfall«; sie werden zu Käufern in den ciucholandy und stellen sich bereits Stunden vor der Ladenöffnung an, um unter den ersten Kunden zu sein.
Eben jetzt teilte das Staatliche Tourismusinstitut mit, daß sich auch in diesem Jahr die Zahl derer verringert, die Urlaub machen. Und das keineswegs, weil es nicht genügend Angebote gebe. Das Gegenteil ist der Fall. Es fehlt an den sprichwörtlichen Penunsen. Während vor fünfzehn Jahren achtzig von hundert Polen, Erwachsene wie Kinder, in ein Ferienheim fuhren, haben heute die meisten Familien nicht jene mindestens viertausend Zloty, die ein 14tägiger bescheidender Urlaub an der Ostsee für eine vierköpfige Familie kostet. Das erwähnte Tourismusinstitut ermittelte, daß in den Jahren 1997 bis 1999 annähernd sechzig Prozent der Polen einen Urlaub im In- oder Ausland verbrachten. In der vorigen Saison waren es nur noch knapp 37 Prozent der Polen im Alter über fünfzehn Jahre, die sich einen Urlaub länger als fünf Tage leisten konnten.
Mit der Transformation Hand in Hand ging die Vernichtung sozial gerechterer Lebensbedingungen, darunter die Urlaubsheime der Gewerkschaften und die Betriebsferienheime. Andrzej Kozlowski, Präsident des Verbands der Erholung für Werktätige stellt lapidar fest: »An den Fingern einer Hand kann ich die Kinder oder die Rentner zählen, die in Ferienlager oder Ferienheime fahren.«
Über Polen lacht die Sonne, doch viele Polen haben nichts zu lachen.