Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Vertrauen ist gut – Mißtrauen ist besser

von Ove Lieh

Ich kann natürlich nicht verstehen, daß man bei jemandem dafür werben muß, Kanzler Schröder zu mißtrauen; angesichts seiner bisherigen Politik hielt ich das für selbstverständlich. Etwa für so selbstverständlich, wie die Oppositionsfraktionen im Bundestag ihren Wahlsieg voraussehen, was sie unvorsichtig werden läßt.
Einigermaßen clever verhält sich nur Bundespräsident Horst Köhler, der die Verkündigung seiner Entscheidung über vorgezogene Neuwahlen knapp an den Redaktionsschluß des nächsten Blättchens legte, so daß dessen Redakteure und Autoren nur raten konnten, wie sie ausfallen wird. Wobei hier mit ›Raten‹ ausnahmsweise nicht gemeint ist, daß man dem Bundespräsidenten rät, wie er zu entscheiden habe, sondern Raten im Sinne von schätzen, womit sofort die Schwierigkeit auftaucht, daß man darüber, ob man seine Entscheidung wird schätzen können, sicher heftig streiten wird.
Vorläufig jedenfalls unterscheidet sich der Zustand des Verfassungsorgans Bundestag von dem einer Säuferleber nur dadurch, daß es sich nicht selbst auflösen kann. Ansonsten tut es wie diese: arbeitet nicht richtig, hält das Gift der Krise weder von Volkskörper noch von der Konjunktur fern und bläht sich sinnlos auf. Letzteres ist ein Verhalten, das man auch bei einzelnen seiner Mitglieder beobachten kann, bei Guido W. zum Beispiel, der in unserem Organvergleich in etwa den Status einer politischen Zyste hätte. Er fordert allen Ernstes, man müsse nun die Macht an den Souverän, an das Volk, zurückgeben. Die Präzisierung, daß mit Souverän das Volk gemeint war, mußte erfolgen, weil sich sonst Ackermann und Co. auf den Empfang der Macht vorbereitet hätten. Sie sind aber nicht gemeint, weil sie nach der Verfassung nicht der Souverän sein dürften, und kaum jemand, aber ganz sicher nicht Herr W., ihnen die Macht wegnehmen will, was aber die Voraussetzung für eine Rückgabe wäre.
So mit dem Volk umzugehen, ist dagegen völlig verfassungskonform. Wie allerdings Herr W. auf die Idee kommt, das Volk könnte in irgendeiner Hinsicht souverän sein, bleibt sein Geheimnis, es ist dies ja nicht einmal mehr auf dem Fußballplatz. Auch das ist heute anders als zu Kaisers Zeiten. Klar ist für ihn aber, daß das Volk die Macht nicht behalten, sondern flugs weitergeben wird und zwar an ihn und seine großen Koalitionspartner. Das Volk will nämlich keine Macht, genauso wie es kein Eigentum will. Das wäre Volkseigentum – klingt häßlich und verpflichtet. Das Volk aber will frei sein.
Was würde passieren, wenn das Volk diesmal die Macht behielte? Würde es dann binnen einer bestimmten Frist vom Bundespräsidenten aufgelöst werden und neu zu wählen sein?
Das ist so unwahrscheinlich wie ein erneuter Wahlsieg von Rot-Grün! Das Volk wird natürlich die Macht zurückgeben an diejenigen, die vor allem nach ihrer eigenen Überzeugung als einzige damit richtig umgehen können. Und das wäre im Moment die Opposition, die einhellig und lautstark erklärt, daß sie mit dem Scheitern der Regierungskoalition nichts zu tun hat. Hat sie als Opposition nicht damit ihren Beruf gründlichst verfehlt!? Hätte sie die Regierung nicht daran scheitern lassen müssen, daß sie fortwährend die besseren Lösungen entwickelt, präsentiert und mit Hilfe ihrer Bundesratsmehrheit vielleicht sogar realisiert!? Nein, sie haben uns lieber schmoren lassen, bis die Regierung an sich selbst gescheitert ist. Feine Ärzte am Krankenbett Deutschlands, lassen die Krankheit sich selbst besiegen! Und dafür sollen wir sie jetzt wählen!
Wenn Ihr das macht, liebe Wählerinnen und Wähler, seid Ihr bei mir endgültig unten durch! Die entsprechenden Zitate aus den Reden von Westerwelle und Merkel könnt Ihr Euch übrigens selber raussuchen, ich mußte mir das ja auch antun. Von Stoiber war in meiner Zeitung noch nichts zu lesen, wahrscheinlich werden die Fragmente seiner Äußerungen noch von dem Computer, der sonst die geschredderten Stasi-Akten rekonstruiert, in einen fortlaufenden Text umgearbeitet.
Deutlich wird dennoch das Problem, das der Wähler hat. Die Opposition läßt heute schon relativ ungehemmt durchsickern, was er im Falle eines Wahlsieges von ihr zu erwarten hätte. Der mögliche Wahlbetrug hält sich so eventuell in Grenzen. Das irritiert die Wählerschaft. Das ist sie nicht gewöhnt. Das gehört sich nicht. Und das versteht sie auch nicht unter Demokratie! Sie kann dann ja hinterher nicht mehr sagen, sie habe das alles nicht geahnt: Ja, wenn wir das gewußt hätten …
Daraus ergeben sich die, wenn auch minimalen, Chancen der Koalition, die vom gewohnten Schema nicht abweicht. Vorn verspricht sie, jetzt aber wirklich etwas fürs Volk zu tun, und hinten wird sie die Agenda 2010 knallhart durchziehen.
Kanzler Schröder gab sich allerdings generös: »Geben wir also den Menschen die Wahl und die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Weg unser Land gehen soll, welchen Staat sie sich wünschen, welchen Stellenwert soziale Gerechtigkeit künftig haben soll.« Welchen Staat man allerdings hinterher bekommt, welchen Weg unser Land geht und welchen Stellenwert soziale Gerechtigkeit tatsächlich hat, gerät nach den Wahlen immer wieder zur Überraschung, das weiß der Kanzler.
Aber immerhin wissen alle nun, worum es geht.
Nutzen wir diese Chance! Machen wir endlich das, was wir wollen!