Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 18. Juli 2005, Heft 15

Input aus Rajasthan

von Jochen Reinert

Rajasthan ist in diesen Breiten vor allem als ein Wüstenland mit märchenhaften Maharadscha-Palästen bekannt. Doch von diesem indischen Unionsstaat zu Füßen der Aravelli-Berge, dem ältesten Faltengebirge der Welt, ist in den vergangenen Jahren eine erstaunliche zivilgesellschaftliche Bewegung ausgegangen, die nicht zuletzt auf dem Weltsozialforum von Mumbai von sich reden machte und jüngst ein progressives Gesetz ins Delhier Parlament brachte.
Die Bewegung mit dem sympathischen Namen Organisation zur Stärkung der Rechte von Arbeitern und Bauern (Mazdoor Kisan Shakti Sangathan – MKSS) wurde 1990 im ländlichen Devdungri nahe der rajasthanischen Distriktsstadt Bhim von der charismatischen Bürgerrechtlerin Aruna Roy gegründet.
Aruna zu treffen, ist alles andere als einfach. Aber in Tilonia, einem kleinen Ort hundert Kilometer südöstlich der rajasthanischen Hauptstadt Jaipur, gelingt dies mitunter. Hier hat ihr Mann Bunker Roy schon vor Jahren das Social Work and Research Centre, eine landesbekannte entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisation (NGO) angesiedelt. Aruna Roy wollte indes einen anderen Weg als ihr Mann zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Indiens Armen gehen: durch schonungsloses Aufdecken lokaler Korruption, dem ärgsten »Entwicklungsfeind« nicht nur im ländlichen Indien. Als Mittel dazu forderten sie und ihre Aktivisten ein erweitertes »Recht auf Information« ein.
Der junge Berliner Politologe und Journalist Stefan Mentschel hat als einer der ersten Ausländer – außer ihm bisher nur noch zwei britische Sozialwissenschaftler von der Universität Brighton – das Wirken Aruna Roys und der indischen Bewegung für das Recht auf Information (RTI-Movement) untersucht. Während seines Berliner Politologiestudiums hat der Zittauer rund zwölf Monate in Indien recherchiert. Das mündete in eine Diplomarbeit mit dem Titel Right to Information – ein geeignetes Mittel im Kampf gegen Korruption? Die von Elmar Altvater betreute Arbeit ist dieser Tage in einer aktualisierten Fassung im Delhier Verlag Mosaic Books in englischer Sprache erschienen.
Wie in den meisten Ländern der Dritten Welt ist das Recht auf Information auch in Indien, das sich gern die »größte Demokratie der Welt« nennt, keineswegs a priori gegeben. Bis vor wenigen Jahren konnte das aus der britischen Kolonialzeit stammende Gesetz über öffentliche Geheimhaltung von 1923 (!) benutzt werden, um Forderungen nach Einsicht in jegliche Verwaltungsakte zurückzuweisen. Das hat sich in jüngster Zeit geändert – dank der in Rajasthan geborenen RTI-Bewegung, Stefan Mentschel kennzeichnet MKSS als eine im Spektrum der indischen zivilgesellschaftlichen Organisationen ungewöhnliche aktionsorientierte Formation. Während andere indische NGO oft um autoritäre Chefs aufgebaut sind, wird MKSS ungeachtet der markanten Rolle Aruna Roys basisdemokratisch geführt. Um die nur rund fünfzehn Aktivisten, die in Devdungri inmitten der Landbevölkerung leben, gruppieren sich mehrere tausend Unterstützer und Sympathisanten. Die Aktivisten, teils sozial engagierte Hochschulabsolventen, teils bodenständige Rajasthaner, setzten sich zunächst für einfache soziale Forderungen wie die korrekte Auszahlung des gesetzlich garantierten Mindestlohns ein. Als sie dabei auf Widerstände der Behörden stießen, entwickelten sie die Forderung nach freiem Zugang zu Informationen über Verwaltungsakte, vor allem nach Transparenz der Entwicklungsausgaben, von denen in Indien nur etwa zwanzig Prozent bei den Bedürftigen ankommen.
Die MKSS-Methode, auf Jan Sunwais (öffentlichen Anhörungen) in Dörfern Korruption aufzudecken, aber auch Lösungswege vorzuschlagen, erwies sich als sehr erfolgreich. Auf den Wogen einer breiten öffentlichen Debatte erreichte MKSS mit der Verabschiedung des regionalen Rajasthan Right to Information Act im Januar 2000 ein wichtiges Ziel. Unterdessen hatte die Bewegung bereits auf andere Teile Indiens übergegriffen, und in acht weiteren Unionsstaaten – unter anderem in Tamil Nadu, Goa, Maharastra und Madhya Pradesh – wurden ähnliche Gesetze verabschiedet. Auch die von der konservativen Volkspartei (BJP) geführte Landesregierung konnte sich dem Thema nicht verschließen. Die im Dezember 2002 beschlossene Freedom of Information Bill wurde von der RTI-Bewegung zwar als ein Schritt in die richtige Richtung, aber wegen ihrer vielen Ausnahmeregelungen als völlig unzureichend kritisiert – kein Wunder, daß die Kongreßpartei in ihrem Wahlkampf 2004 ein besseres Gesetz versprach.
Wie Mentschel in einem Postscript seines Buches umreißt, hat die neue, von der Kongreßpartei geführte und von den Linksparteien tolerierte United Progressive Alliance (UPA) auch ein progressives nationales RTI-Gesetz in ihr Minimalprogramm aufgenommen. Der neue National Advisory Council unter Kongreßpräsidentin Sonia Gandhi, dem auch Aruna Roy angehört, legte bereits im Oktober 2004 einen neuen Gesetzentwurf vor. Nach längeren Debatten ist die neue Right to Information Bill am 11. Mai 2005 vom Parlament in Delhi verabschiedet worden – von Aruna Roy als »bahnbrechend« qualifiziert.
Mentschel beantwortet die Frage »Recht auf Information – ein geeignetes Mittel gegen Korruption?« für Indien generell positiv, sieht aber erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Neben der ungenügenden Kenntnis der Bevölkerung über die Möglichkeiten der bereits bestehenden regionalen Gesetze verweist er auf den »systematischen Widerstand der Entscheidungsträger« und die »leere Rhetorik« von Politikern, mit der auch in kongreß-regierten Unionsstaaten durch RTI-Gesetze Nichtstun oder gar Widerstand verschleiert wird. Deshalb bleibt Mentschel trotz aller Sympathie für die RTI-Bewegung skeptisch, inwieweit sie ein realer Bestandteil der demokratischen Praxis Indiens werden kann.
Auf dem Weltsozialforum von Mumbai erklärte Aruna Roy: »Im Interesse einer Strategie gegen den Neoliberalismus muß das Vertrauen zwischen Politik und sozialen Bewegungen wieder hergestellt werden. Wenn die Partnerschaft aber nicht erfolgreich ist, dann bleibt der sozialen Bewegung nichts anderes, als eine eigene politische Kraft zu entwickeln.« Inzwischen hat MKSS eine Reihe seiner Leute in lokalen Parlamenten Rajasthans plazieren können. Aber wie überall in der Welt streiten die Linken auch hier um die Möglichkeiten parlamentarischen und außerparlamentarischen Wirkens.

Stefan Mentschel: Right to Information. An Appropriate Tool Against Corruption? Mosaic Books Delhi 2005, 149 Seiten, 15 Euro. Zu beziehen über den Autor (mentschel@web.de) oder die Berliner Buchhandlungen »Schwarze Risse« 030/6928779 und »OH 21« 030/6152226