von Paul Lerner
Das rot-grüne Projekt ist beendet, die Hoffnungen einer ganzen Generation werden zu Grabe getragen. Die Kinder des Sisyfos haben möglicherweise den falschen Stein gerollt. Erasmus Schöfer, der große alte Mann des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, ist ihr Chronist.
Bislang liegen zwei Bände der geplanten Tetralogie vor: Ein Frühling irrer Hoffnung und Zwielicht. Schöfer leistet damit das, was den Zeithistorikern bisher zu anstrengend war und vor allem zu abseitig erschien: eine Geschichte der westdeutschen Linken in der Zeit zwischen 1968 und 1990 zu verfassen. Die Zeithistoriker haben solange gewartet, bis der Stoff aufgehört hat, etwas für sie zu sein. Zeitgeschichte ist Historie, die noch dampft und raucht. Hier dampft und raucht aber nichts mehr. Gerhard Schröder hat diesen Gegenstand zu einem abgeschlossenen Sammelgebiet gemacht.
Früher starben die Geschichten mit ihren Helden, heute sterben sie vor ihnen. Vielleicht ist das der tiefere Sinn der Postmoderne. Was da 1968 begann, bewahrt Schöfer vor dem Vergessen und gemahnt so die Linke, ehe sie erneut zu großen Taten aufbricht, innezuhalten und zu bedenken, warum es wurde, wie es wurde, was einst so hoffnungsfroh eingesetzt hatte.
Man kann Schöfers Roman als Roman lesen – ich habe ihn als Sachbuch gelesen, auch als Quellensammlung. Aus einem Brief, 22. April 1968, an Wolfgang Abendroth (dessen 100. Geburtstag im Mai des nächsten Jahres ansteht): »Die Deutsche Friedens Union, 1960 nach Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD gegründet, um für die Wahlen 1961 eine linke Alternative zur marxistisch keimfrei gemachten Arbeiterpartei, neuerdings Volkspartei genannt, anzubieten, wurde von den illegalen Kommunisten unterstützt. Wer weiß – vielleicht sogar initiiert. Offenbar um zu verhindern, daß sich eine linkssozialistische (womöglich antisowjetische) Partei bildete und damit jedes Bedürfnis nach einer wiederzugelassenen KPD ersticke.
Seit die SPD in die Große Koalition mit dem Nazi-Kanzler Kiesinger eingetreten ist und Schröders Notstandsgesetze – auch gegen den Widerstand der Gewerkschaften – verabschieden will, gibt es außer der APO und den Studenten keine antikapitalistische Opposition mehr im Land.
Wenn Du mir bis hierher folgst, dann müßte auch Dich wundern, daß nun die westdeutschen KP-Leute, vermutlich im Einverständnis mit ihren SED-Genossen, sich plötzlich verstärkt für die Aufhebung des KPD-Verbots einsetzen und die DFU rechts liegen lassen. Hier in München ist kürzlich ein Ausschuß gebildet worden, der zu diesem Zweck Unterschriften sammelt und neulich einen neuen Programm-Entwurf der KPD öffentlich vorgestellt hat, ohne daß die Leute verhaftet worden sind.
Fühlt sich die CDU-SPD-Regierung so sicher, daß sie im Interesse ihrer internationalen demokratischen Reputation eine kommunistische Partei wieder zulassen will? Oder hat der Verfassungsschutz sie beruhigt, daß die westdeutsche Arbeiterklasse durch Wohlstand korrumpiert und hinreichend immunisiert ist gegen eine marxistische Organisation, so lange die DDR nur dieses Zerrbild von Sozialismus bietet?«
Schöfer hält sich an keine Regeln, erst recht nicht an die Rechtschreibregeln, die die Kulturministerkonferenz ohnehin ins Chaos suspendiert hat. »Die Sprachschreibung in diesem Buch folgt im Zweifel lieber dem Sprachgefühl des Autors als dem kommissarischen Rechtschreibkanon.« Hier werden Texte montiert – Schöfer erzählt entlang der historischen Fakten, wissend, detailliert, erst die sechziger, dann die siebziger Jahre. Er verwendet Dokumente, Interviews, druckt Briefe ab, arbeitet in verschiedenen Dialekten. Mit den unterschiedlichsten Formen versucht er, das spröde Material zu bezwingen.
Als gebürtigem Berliner fließt ihm das Ruhrpottplatt ebenso leicht aus der Feder wie das Gebabbel der Badenser – der promovierte Sprachwissenschaftler hat genau hingehört: an seinen Wohnorten Köln, Freiburg, München, Neuss, Paris und Ithaka, in Betrieben ebenso wie in Debatten mit Rudi Dutschke.
1988/89 galt es als ausgemacht, daß der Marsch durch die Institutionen 1990 in die Bundesregierung führen würde. Das Land war überreif für Reformen – mit denen damals noch Fortschritt und Demokratie assoziiert wurden. Doch Honecker hatte fertig und stabilisierte dadurch Kohl für weitere acht Jahre. In dieser Zeit sind die Helden alt geworden. Aus dem Projekt »Wir« wurde das Projekt »Ich«. 1998 hatten sie vergessen, warum sie 1968 angetreten waren – für viele wurde es ein nahtloser Übergang aus der Infantilität in die Senilität; erwachsen geworden waren sie nie. Die Trauer um die vertane Chance hat Erasmus Schöfer die Feder geführt. Leicht beklommen erwarte ich den nächsten Band.
Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos. Tetralogie. Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, Band 2: Zwielicht, beide bei Dittrich Verlag Köln, 496 Seiten, 19,80 Euro; 600 Seiten, 24,80 Euro
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