von Hermann-Peter Eberlein
Der Buchtitel ist ein Zitat von Sándor Márai: Kaschau war eine europäische Stadt. Um eine Rückgewinnung der europäischen Dimension geht es diesem Städtebuch von Michael Okroy, der sich seit Jahren mit Wuppertals slowakischer Partnerstadt Kaschau (so der deutsche Name), Kosice (slowakisch) beziehungsweise Kassa (ungarisch) beschäftigt. Entsprechend ist das auffallendste an dem schönen, großformatigen und reich bebilderten Band seine konsequente Zweisprachigkeit, durch die es sich deutschen wie slowakischen Lesern gleichermaßen empfiehlt. Zweiter Weltkrieg und Holocaust haben freilich den multiethnischen Charakter der einstigen ungarischen Metropole zerstört – immerhin aber leben heute wieder neun nationale Minderheiten in der Stadt, und die Roma unterhalten hier ihr einziges Theater in der Slowakei. Ist also der mit dem Buchtitel angesprochene Zustand – vergleichbar allenfalls mit dem von Czernowitz zur Habsburgerzeit – auch unwiederbringlich dahin, so mehren sich doch »die Anzeichen für eine Europäisierung des öffentlichen Gedenkens und der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, an Massenmord, Kriegsgreuel und Vertreibung …, und zwar unter Berufung auf einen europaweit verbindlichen Wertekatalog menschenrechtlicher und antirassistischer Abmachungen«. Diesem Gedenken am Beispiel Kaschaus aufzuhelfen, das will der Band leisten.
Er tut es gleich dreifach: als Führer vor allem zu den Relikten jüdischer Vergangenheit in Kaschau und dem benachbarten Presov (Preschau), als Chronik der Vernichtung der ungarischen Juden, die am Kaschauer Bahnhof der SS übergeben und von da aus nach Auschwitz deportiert wurden, und als Lesebuch mit Texten unterschiedlichster Autoren zur Stadt und ihrer Umgebung. Machen in den ersten Kapiteln die angeführten Einzelschicksale und die beigefügten Dokumente beklommen, so eröffnet das »Kaschauer Lesebuch« einen weiten Blick auf dreihundert Jahre urbanes Leben im östlichen Mitteleuropa: von dem Barockdichter Daniel Speer (Ungarischer oder Dacianischer Simplicissimus, 1683) bis zu dem vielleicht berühmtesten Sohn Kaschaus, Sándor Márai, von dem ein humorvoller Ausschnitt aus seinen Bekenntnissen eines Bürgers hier zum erstenmal auch in slowakischer Sprache zugänglich ist. Der »rasende Reporter« Egon Erwin Kisch ist ebenso vertreten wie Eduard Goldstücker, ein Opfer des Stalinismus, später der Initiator der beiden so folgenreichen Konferenzen über Kafka und über die Prager deutsche Literatur 1963 und 1965, der später Rektor der Karls-Universität und Promotor des Prager Frühlings wurde.
»Den Begriff ›Nation‹ haben westeuropäische Gelehrte erfunden«, doch – so Joseph Roth 1927 – im Osten »leben noch Menschen, die sich um ihre ›Nationalität‹ … nicht kümmern«, Produkte diverser Völkermischungen, polyglott, oft fromm und gute Untertanen. Diese Zeiten sind vorbei – aber vielleicht hat ja doch ein neues, ziviles Europa eine Chance, das nicht Brüssel, nicht Militarisierung, nicht Global-Player-Kapitalismus heißt. Die Sehnsucht nach einem solchen Europa wachzuhalten wäre nicht die schlechteste Folge der Lektüre dieses Buches.
Michael Okroy: Kaschau war eine europäische Stadt. Ein Lese- und Reisebuch zur jüdischen Kultur und Geschichte in Kosice und Presov. Arco-Verlag Wuppertal 2005, 256 Seiten, 24 Euro
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