von Anne Dresden
Am 6. Dezember 1801 schnürte Johann Gottfried Seume (1763-1810) in Grimma, wo er als Lektor im Verlag Göschen tätig war, seinen Ranzen, um nach Syrakus zu wandern. Fast zur selben Stunde machte sich Friedrich Hölderlin in Nürtingen auf, nach Bordeaux zu gehen. Der Grund zum Aufbruch war hier wie dort ähnlich: Sie wollten das bisherige Leben zeitweise hinter sich lassen und neue Welten zu entdecken. Während wir über Hölderlins Wanderung nur wenig informiert sind, hat Seume minutiös von seinem Fußmarsch nach Italien berichtet.
Bruno Preisendörfer geht diesem Seume nach, der als „Spaziergänger nach Syrakus“ in die Literatur einging. Der Biograf nähert sich dem vor 250 Jahren in Poserna bei Weißenfels geborenen Schriftsteller auf verschiedenen Pfaden. Er folgt nicht der gängigen biografischen Ordnung, wie sie durch die Lebensdaten eingegrenzt werden, sondern er fächert Seumes Leben thematisch auf. Da man in Biografien eine lineare Erzählung erwartet, bemerkt man diese Struktur erst, wenn man Preisendörfer durch das erste Kapitel folgt. Diese Dramaturgie ist zwar gewöhnungsbedürftig, hilft aber, das Phänomen Seume besser zu verstehen. Ein quasi Seume‘sches Verfahren, heißt es doch über dessen „Spaziergang“-Buch: „Statt in zeitlicher Chronologie den Ereignissen nachgehen zu können wie ein Wanderer, der Wegmarkierungen folgt, wird man von Seume erzählerisch kreuz und quer durch den Raum geschubst.“
Seumes Biografie ist alles andere als geradlinig. Struktur erhielt sein Leben tatsächlich erst, als er im Verlag Göschen in Grimma als Lektor arbeitete. Damit verbunden ist eine witzige Marginalie der deutschen Literaturgeschichte. Seume betreute eine Edition der Werke des seinerzeit berühmten Klopstock. In dieser Eigenschaft empfahl er diesem, in einem seiner Gedichte nachträglich ein Komma zu setzen. Das war faktisch durchaus richtig. Der Odendichter weigerte sich, was erst zu einem brieflichen Schlagabtausch und dann zum Bruch zwischen Klopstock und Seume, der auch leicht kränkbar und schnell verletzlich war, führte. In diesem Punkt notiert der Biograf diplomatisch: „Im Streitfall Seume versus Klopstock wurden die Klagen und Gegenklagen vor den recht wackeligen Richterstuhl des entnervten Göschen getragen; und stets ging es neben der Richtigkeit auch sehr ums Rechtbehalten.“
Die Literatur gewordenen spektakulären Reisen nach Sizilien 1801 und durch Skandinavien 1805 dürften nicht zuletzt eine Reaktion auf jene Unfreiheit gewesen sein, die Seume in jungen Jahren als zwangsrekrutierter hessischer und preußischer Soldat erdulden musste. Was der spätere Schriftsteller in den Reihen des Militärs dies- und jenseits des Atlantiks erlebte, erinnert an jene Art leichter Unterhaltungsromane, die um 1800 so beliebt waren. Für Preisendörfer ist nicht zu deuten, wie es zur Anwerbung Seumes kam. Diesbezügliche Fragen müssen, da sich Seume darüber nicht äußerte, unbeantwortet bleiben. Dass er aber betrunken gemacht oder mit Gewalt in die Uniform gezwungen wurde, ist für den Autor eher unwahrscheinlich. Dass sich Seume das Erlebnis, Halifax mit eigenen Augen gesehen zu haben, gern erspart hätte, ist nur zu verständlich. Acht Jahre seines alles in allem kurzen Lebens vergeudete Seume unfreiwillig in der Knochenmühle wechselnder Befehlshaber.
„Wie im Leben“, so resümiert der Autor sehr treffend, „gehörte er auch im Schreiben nirgendwo recht dazu.“ Obwohl das Leben des Spaziergängers so bewegt und bewegend war, ist es erstaunlich, dass sich bislang nur eine überschaubar kleine Zahl von Autoren an der Beschreibung desselben versucht hat. Aus der Lektüre von Preisendörfers Biografie dieser redlichen Persönlichkeit geht der Leser mit großem Gewinn hervor, weil dem Autor ein kompaktes Lebensbild und eine in sich runde Interpretation von Seumes Werk gelungen ist. Klar ist auch, dass Johann Gottfried Seumes Dasein alles andere als ein Spaziergang war.
Bruno Preisendörfer: Johann Gottfried Seume oder Der waghalsige Reisende, Galiani Verlag, Berlin 2012, 378 Seiten, 19,99 Euro
Schlagwörter: Anne Dresden, Galiani Verlag, Johann Gottfried Seume