von Edgar Benkwitz
Allahabad gehört mit 1,1 Millionen Einwohnern zu den kleineren der 34 Millionenstädte Indiens. Doch aller zwölf Jahre schwillt es für einige Tage zu einer der grössten Städte der Welt an. Zur Kumbh Mela, dem „Fest des Kruges“, versammeln sich am Zusammenfluss der heiligen Ströme Ganges und Jamuna Millionen und Abermillionen Hindugläubige, um ein Bad in seinen Wassern zu nehmen. Die Zahl der Teilnehmer steigt ständig; waren es 1989 noch 25 Millionen Gläubige, so wird bei der derzeit stattfindenden Kumbh Mela mit bis zu 100 Millionen gerechnet. Die Festlichkeiten erstrecken sich über einen Monat, bei Neumond werden es weit über 20 Millionen Menschen sein, die an einem einzigen Tag in das kalte Wasser steigen.
Allahabad ist seit Urzeiten ein heiliger Ort. Den alten indischen Epen zufolge sollen beim Streit der Götter mit den Giganten um einen mit Unsterblichkeitsnektar gefüllten Krug einige Tropfen „Amrita“ auf die Erde gefallen sein. Das „Mahabharata“ nennt vier Orte, wo der Nektar die Erde berührte, darunter Prayag (im Sanskrit Opferstätte). Bereits im 7. Jahrhundert beschrieb der chinesische Reisende Hiuen Tsang Prayag als hinduistische Pilgerstätte. Moghulkaiser Akbar benannte sie während der islamischen Herrschaftsperiode 1583 in Allahabad – Stadt Allahs – um.
Zum Hinduismus bekennen sich in Indien nahezu eine Milliarde Menschen. Für den Gläubigen gehört der Besuch heiliger Orte und religiöser Feste zum festen Ritual. Stehen Sonne, Mond und Jupiter in einer besonderen Konstellation – das ist aller zwölf Jahre – reisen zur Grossen Kumbh Mela in Allahabad, der „Königin der Pilgerstädte“, aus ganz Indien Pilger und Besucher an. Vielmehr als anderswo befreit ein Bad an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt von unrechten Taten und stärkt den tugendhaften Weg. Die Chancen, im nächsten Leben ein besseres Schicksal zu erhalten und sich so der Erlösung zu nähern, das heißt den Kreislauf der Wiedergeburt zu durchbrechen, sind hier um ein Vielfaches grösser.
Nur mit einem Leinentuch bekleidet, steigen die Gläubigen in das Wasser. Den Sadhus, den heiligen Männern, gehört dabei der Vorrang. Ihre Prozession an den Hauptbadetagen, bei der die Nagas unter ihnen nackt und mit Asche eingerieben, oft mit einem Dreizack in der Hand, an Gläubigen und Schaulustigen vorüberziehen, gehört zu den Höhepunkten. Für den normalen Pilger ist die Begegnung mit einem Sadhu ein besonderes Ereignis. Ihn zu sehen oder gar zu berühren bringt Segen, denn er hat allem Weltlichen entsagt und ist so der Erlösung näher als der normale Gläubige. Die Meinungen zu den Sadhus sind aber geteilt. Mahatma Gandhi, der sich als einen orthodoxen Hindu bezeichnete, nahm als Helfer ein einziges Mal an einer Kumbh Mela teil. Danach äusserte er Zweifel an der Rechtschaffenheit so mancher Sadhus, bezeichnete sie als Scharlatane und Heuchler, die sich unrechter Mittel bedienen. Mittlerweile wird ihre Anzahl auf über sechs Millionen geschätzt. Sie ziehen von einem Grossereignis zum anderen, man trifft sie überall in Indien.
Bei der riesigen Massenveranstaltung geht es mehr oder weniger geordnet und friedlich zu. Bisher wurde der gewaltige Ansturm durch die Behörden erfolgreich abgesichert. Am Ufer stehen Zeltstädte, es wird gekocht und entsorgt. Morgens werden die Badewilligen in grossen Gattern zusammengeführt und schubweise ins Wasser gelassen. Abends lodern Tausende von Lagerfeuern. Polizei, Sicherheits- und Rettungskräfte sind sichtbar vertreten. Seit Jahrzehnten sind ernsthafte Zwischenfälle, grössere Gewalttaten oder gar Massenpaniken nicht mehr vorgekommen. Das ist für indische Verhältnisse mit ihren vielfältigen Problemen keine Selbstverständlichkeit. Aber hier scheinen für den Moment selbst Kastentrennung und soziale Unterschiede aufgehoben, die Angst vor terroristischen Aktivitäten genommen zu sein. Für den Gläubigen sind nur das Bad am heiligen Ort und die damit verbundene spirituelle Reinigung wichtig.
Allahabad ist in den Tagen der Kumbh Mela fest in den Händen der Hindugläubigen, die durch Glaubensbrüder aus Buddhismus und Jainismus verstärkt werden. Gleichzeitig symbolisiert der Ort das säkulare Indien mit seiner Religionsvielfalt und Toleranz. Fast ein Viertel der Einwohner Allahabads sind Muslime, ihr Anteil liegt damit weit über dem indischen Durchschnitt von etwa zwölf Prozent. Von der islamischen Vergangenheit zeugen neben dem Namen der Stadt das gewaltige Fort am Gangesufer. Auf einem seiner Höfe steht eine Steinsäule des Kaisers Ashoka, fast zweieinhalbtausend Jahre alt, auf der Glaubenssätze des Buddhismus eingemeisselt sind. Sie erinnert an eine andere grosse Vergangenheit, denn der Buddhismus entstand hier ganz in der Nähe. Allahabad ist auch Sitz eines römisch-katholischen Bistums und eines Bistums der anglikanischen Kirche – Zeugen der Missionstätigkeit aus der Kolonialzeit. Schließlich ist die Stadt Heimat der angesehensten „Nichtgläubigen“ Indiens, der Nehru-Familie. Urahn Motilal Nehru liess sich hier als erfolgreicher Jurist nieder, fand dabei den Weg zur Unabhängigkeitsbewegung. Sein Sohn Jawarhal Nehru und dessen Tochter Indira Gandhi wurden in Allahabad geboren und wuchsen hier auf. Allen Nehrus beziehungsweise der I. Gandhi-Linie wird ein gewisser Abstand zur Religion nachgesagt, obwohl sie sich in der Tradition und Lebensweise des Hinduismus bewegten. Motilal, aus einer Brahmanenfamilie stammend, machte aus der generellen Ablehnung von Religion keinen Hehl, war sogar Angehöriger einer Freimaurerloge. Aus hinduchauvinistischen Kreisen wird der Nehru-Dynastie bis heute „Gottlosigkeit“ vorgeworfen.
Das neue Indien ist seit seiner Gründung ein säkularer Staat. Die drei Farben der Staatsflagge werden oft als Symbol für die nebeneinander bestehenden Glaubensrichtungen angesehen: safran für Hindus, Jains und Buddhisten; weiss für Christen, Parsen und andere Minderheiten; grün für die Moslems. Allerdings werden Säkularismus und Toleranz immer wieder schweren Prüfungen unterworfen, wie das knapp 100 Kilometer nördlich von Allahabad gelegene Ayodhya zeigt. Vor genau 20 Jahren zerstörten hier tausende fanatische Hindus die moslemische Babri-Moschee, da sie angeblich auf den Fundamenten eines alten, dem Gott Rama geweihten Hindu-Tempels stand. Danach gab es in ganz Indien Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems mit über 2.000 Todesopfern. Ayodhya wurde zum Symbol von Fanatismus und Extremismus, geschürt vor allem von Politikern der hindunationalistischen BJP.
Die Kumbh Mela wird immer wieder von prominenten Reisenden besucht. Mark Twain, der auf seiner Weltreise 1895/96 auch Indien durchquerte, machte in Allahabad Station. Sichtlich beeindruckt schilderte er das bunte Treiben, angesichts der religiösen Hingabe und der Aufopferung der Pilger verzichtete der aufmerksame Beobachter auf seinen ansonsten reichlich verwandten Spott.
Heute rufen die Bilder von der Kumbh Mela weniger Respekt, als vielmehr Neugier und Verwunderung hervor. Archaisch anmutende Zeremonien und massenhaft religiöse Hingabe gehen einher mit Sensation, Kommerz und Exotik – in diesen Dimensionen überhaupt erst ermöglicht durch eine logistische Meisterleistung der Organisatoren. Im Zusammenhang mit dem grausamen Vergewaltigungsverbrechen Mitte Dezember in Neu Delhi schrieb ein Korrespondent nicht zu unrecht, dass Indien gleichzeitig in mehreren Jahrhunderten lebt. Grosse Wirtschaftskonglomerate, die erfolgreich in der weltweiten Globalisierung mitmischen, stehen neben archaischen Feudalstrukturen; eine ständig wachsende Mittelschicht neben der Masse der Slumbewohner und der armen Landbevölkerung. Damit verbundene Probleme und Widersprüche belasten enorm das soziale Gefüge, zumal es sich in Grössenordnungen abspielt, die jeden europäischen Staat in die Knie zwingen würden.
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