Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 6. Juni 2005, Heft 12

Aussöhnung

von Horst Grunert

Daß die deutschen Lande wieder verstärkt von antisemitischen Strömungen überflutet werden, ist schon seit langem nicht mehr zu bestreiten. Ständig ist von Aufmärschen zu hören, auf denen rassistische Parolen gebrüllt werden, von primitiven Schmierereien, von der Schändung jüdischer Symbole, ja jüdischer Gräber.
Doch mir geht es nicht um den Antisemitismus der Armen im Geiste, der Tumben. Das soll nicht heißen, daß ich diese Abart der Gehirnerweichung nicht für gefährlich halte. Keineswegs. Wir haben erlebt, daß offensichtlicher Irrsinn, groteske Wahnvorstellungen zum politischen Credo erhoben werden können, und wir wissen, wohin das führen kann.
Auch die gedanklichen Entgleisungen bei Menschen, die zu meinen Freunden zählen und die ihren Verstand noch ganz gut beisammen haben, bereiten mir ernste Sorgen. Leute, die ich den Linken zurechne oder die zumindest einmal Linke waren. Sie pflegen ihre Sätze mit der Floskel einzuleiten: »Ich bin weiß Gott kein Antisemit, aber …« Und dann folgen kritische, mitunter hämische, manchmal auch haßerfüllte Beschuldigungen, die im Kern bedeuten: Ich habe nichts gegen die Juden, solange sie lieb und nett zu uns sind und auf unsere schwierige Lage Rücksicht nehmen.
Die Liste der Anklagen ist weit gefächert. Ein guter Freund, bei einer Wohnungsverwaltung tätig, schildert in präzisen Einzelheiten, daß die in den vorigen Jahren eingewanderten Juden die Gesetze und die ihnen gewährten Rechte sehr genau kennen und bis zum letzten Komma ausnutzen, ja auch auszudehnen versuchen. Ein anderer beweist mir, daß die Juden, wo sie auch sind, eng zusammenhalten und bestrebt sind, ihre Interessen gegen jede nichtjüdische Konkurrenz gemeinsam zu schützen. Natürlich ist auch bald von Kleinmachnow und Schulzendorf die Rede, von den Rückgabeforderungen für Grundstücke und Häuser, die jüdischen Familien während der Nazi-Zeit auf diese oder jene Weise abgenommen wurden, sei es dadurch, daß die bisherigen Besitzer damit die Genehmigung für ihre Ausreise erkauften, sei es dadurch, daß sie vertrieben wurden, erst in die Ghettos des Ostens und dann in die Vernichtungslager. Detaillierte Schilderungen von bedauernswerten Familien, die ihre Wohnungen, in denen sie Jahrzehnte hindurch lebten und glücklich waren, jetzt verlassen müssen, heizen die Gemüter an.
Niemand will in Abrede stellen, daß viel persönliches Leid mit dieser Problematik verbunden ist. Aber es darf nicht vergessen werden, daß diesem Leid ein ungleich größeres Leid vorausgegangen ist, ein Leid, das zumindest mit Exilierung, oft aber mit dem Tod in den Gaskammern verbunden war, und daß dieses Leid von Deutschen verursacht wurde. Gewiß gehören viele derer, die es heut trifft, einer neuen Generation an und tragen keine Schuld an den Verbrechen der Vergangenheit. Doch wer hat geglaubt, daß die schrecklichen Untaten des Nazi-Regimes, denen nur ach so wenige widerstanden, in einer Generation abgegolten sein werden? Deshalb geht es nicht an, resignierend zuzusehen, wenn rassistische Schlußfolgerungen aus der Tatsache gezogen werden, daß Wiedergutmachung Opfer erfordert, deren Lasten mitunter ungleich verteilt sind. Das gilt auch dann, wenn irgendwelche Erben, wo immer sie jetzt wohnen, zu erkunden suchen, ob sie einen Rechtsanspruch auf das Vermögen ihrer Väter haben, und bemüht sind, diesen Anspruch durchzusetzen.
Kritiker dieses Standpunktes meinen, ein solches Verhalten störe die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden. Aber das ist doch ein grotesker Standpunkt. Nicht die Juden, sondern wir sind es, die in der Pflicht stehen, durch unser Handeln zu beweisen, daß eine Aussöhnung trotz der von Deutschen begangenen Verbrechen möglich ist. Welchen Grund sollten Juden, Kinder oder Enkel der Vertriebenen oder Vergasten haben, auf irgendetwas, das ihren Vorvätern gehörte, zu verzichten? Aus Gefälligkeit? Ich weiß viele Gründe, die Juden bewegen könnten, uns keinen Gefallen zu tun. Viele werden uns hassen.
Die Erinnerung wiegt zu schwer, ich kann das verstehen. Viele möchten die Vergangenheit begraben und den Haß mit ihr. Sie zeigen damit eine bewundernswerte Größe, und ich verneige mich vor ihnen. Der Antisemitismus ist nicht nur idiotisch; er ist auch ein Verbrechen, unabhängig davon, welche Fortschritte wir im Prozeß der Aussöhnung erreicht haben. Unabhängig davon, wie viele von den Juden uns gegenüber großzügig sind oder verbissen um die Wahrung ihrer Interessen kämpfen. Unabhängig davon, ob sie auf unsere Belange Rücksicht nehmen. Unabhängig davon, ob sie uns lieben und verzeihen oder auch nicht.