Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 23. Mai 2005, Heft 11

100 Tage

von Kathrin Singer, Kiew

Einen 100-Tage-Plan hatte Präsident Juschtschenko bei seinem Amtsantritt Ende Januar nicht aufgestellt. Ein erstes Resümee wurde dennoch jetzt gezogen. In einer erweiterten Kabinettsitzung gab der Präsident der Regierung die allerhöchste Punktzahl. Das Vertrauen der Menschen, speziell in den Präsidenten und die Premierministerin, Julia Timoschenko, ist weiterhin enorm hoch. Meinungsumfragen belegen das übereinstimmend. Nicht nur die fünfzig Prozent Erhöhungen der Sozialausgaben und der Löhne im öffentlichen Sektor haben dazu beigetragen, sondern vor allem das Gefühl, daß die Regierung offener, ehrlicher und demokratischer ist.
»Die neue Regierung spricht über reale Probleme des realen Lebens. Ein Novum in der Geschichte des Landes, so die Politologin Vira Nanivska. Die konsequente Kampagne gegen die weitverbreitete Korruption und den Schmuggel, die trotz sinkender Wachstumszahlen mehr Geld in den Staatshaushalt gebracht hat, wird ebenfalls positiv in der Bevölkerung registriert. Die Justizorgane untersuchen tausende Fälle von Machtmißbrauch, ungesetzlicher Bereicherung und Gewalt. Parallel dazu wurden in den ersten hundert Tagen 18000 Posten in allen Ebenen der Administration neu besetzt. Zwar gab es auch Fehlentscheidungen, die Unruhen in der Bevölkerung auslösten, aber diese wurden durch den neuen Stil der Regierung geregelt. Man hörte zu, erklärte und in manchen Fällen wurden die Ernennungen rückgängig gemacht.
Ohne Zweifel steht die Außenpolitik auf der Habenseite und trägt zum Wohlgefühl bei. Der Anspruch des Landes auf eine NATO-Mitgliedschaft in den nächsten zehn Jahren kann nun als real betrachtet werden, und auch die Beziehungen zur Europäischen Union sind sehr lebendig. Das Verhältnis zu Rußland entwickelt sich pragmatisch. Juschtschenko gibt seinen Partnern diplomatisch zu verstehen, daß das Land »keine Provinz und kein Vasall« ist. Die ersten 100 Tage haben Antwort auf Fragen gegeben, die jahrelang im Raum standen. Die Entscheidungen in Richtung Demokratie, Europa und Reformen scheinen unumkehrbar zu sein.
Kritisiert wird zunehmend, daß die positiven demokratischen Entwicklungen auf höchste Ebene nicht ausreichend durch organisatorische, administrative und juristische Reformen gestützt werden. Täglich werden neue Regeln herausgegeben, die bereits am nächsten Tag wieder geändert werden. Einzelentscheidungen auf allerhöchster Ebene gehören zum Alltag. Die Europäische Business Assoziation in Kiew hat besorgt diese Situation gegenüber der Regierung angemerkt. Auch die Unsicherheiten darüber, wie viele Firmen nationalisiert werden, haben nicht dazu beigetragen, die erwarteten Investitionen ins Land zu holen. Julia Timoschenko hatte im Februar davon gesprochen, 3000 Privatisierungen zu überprüfen.
Juschtschenko, sich der Schockwirkung dieser Erklärung bewußt, widersprach ihr umgehend und sagte, daß die Liste nicht mehr als dreißig bis vierzig Betriebe umfassen würde. Um die Spekulationen zu beenden, forderte er die Regierung auf, diese Aufstellung bis Ende April fertig zu stellen. Sie gibt es bis heute nicht. Die Regierungschefin möchte keine Liste, sondern ein Gesetz verabschieden, das genau festlegt, wie Privatisierungen untersucht werden sollen. »Es gibt seitens der Regierung viele widersprüchliche Aussagen auf diesem Gebiet, die Unsicherheiten schaffen«, so Hartmut Jacob, Chef der Investitionsbank Renaissance Capital Ukraine.
Die Oligarchen des Landes schienen anfangs die Hoffnung zu hegen, sich mit der neuen Macht arrangieren zu können. Die Verhaftung des Geschäftsmannes Boris Kolesnikow, ehemaliger Chef der Donetzker Region und enger Vertrauter des mächtigsten Oligarchen Rinat Achmetow, hat ihnen jedoch gezeigt, daß Juschtschenko entschlossen ist, daß oligarchische System zu zerschlagen. Der Clan in Dnepropetrovsk ist bereits am Zerfallen, der Kiewer Clan hat jeden politischen Einfluß verloren. Und auch der Donetzker Clan um Milliardär Achmetow bröckelt. Ein Flügel der lokalen Elite, der um die Donbas Industrial Union gruppiert ist, favorisiert die Zusammenarbeit mit der Regierung. Schlechte Beziehungen mit der Macht, davon ist man überzeugt, sind nicht gut für das Geschäft. Und so verlaufen die von der sehr schwachen Opposition rund um den ehemaligen Ministerpräsidenten Janukowitsch initiierten Protestaktionen im Sand.
Selbst wenn es nur 100 Tage sind – die politische Atmosphäre hat sich im ganzen Land gewandelt. Die neue Regierung, die sich jetzt als Hauptaufgabe den Kampf gegen die Armut gestellt hat, ist deshalb zunehmend optimistisch, die bevorstehenden Parlamentswahlen 2006 gut zu bestreiten. Diese Wahlen zu gewinnen, darauf ist alles derzeit ausgerichtet. Es würde der Mannschaft um den Präsidenten fünf Jahre geben, in denen das Land grundlegend verändert werden könnte.