Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 9. Mai 2005, Heft 10

Die hundert Tage des Abu Mazen

von Uri Avnery, Tel Aviv

Die Juden feierten jetzt im Gedenken an den Auszug aus Ägypten Pessach. Nach Exodus 5 (2. Mos. 5) befahl der Pharao den Kindern Israels, Ziegel mit Häcksel zu produzieren, lieferte ihnen aber kein Häcksel. »Und die Kinder Israels kamen und schrien zum Pharao: Warum verfährst du so mit deinen Knechten? Man gibt deinen Knechten kein Häcksel und dennoch sollen wir Ziegel machen.«
Abu Mazen könnte in dieselbe Klage einstimmen. Er ist aufgefordert worden, die Aufgabe zu erfüllen, die er auf sich genommen hat, und erhält nicht die geringste Unterstützung dazu.
Wie sieht nach hundert Tagen die Bilanz von Abu Mazen aus?
In der positiven Spalte gibt es einige eindrucksvolle Errungenschaften. Als erstes allein die Existenz seines Regimes. Das ist schon ein bemerkenswerter Erfolg an sich, der ignoriert wird, weil man sich so daran gewöhnt hat. Der plötzliche (und noch immer nicht aufgeklärte) Tod von Yasser Arafat hätte ein Chaos verursachen können. Stattdessen gab es einen erstaunlich glatten Übergang zum nächsten Regime, und demokratische Wahlen fanden ohne gewalttätige Zwischenfälle statt. Sehr wenigen Völkern war dies nach dem Tod des Vaters der Nation gelungen. Dem ganzen palästinensischen Volk muß dies hoch angerechnet werden. Es begriff den Ernst der Stunde und wahrte die Einheit hinter dem Nachfolger.
Das zweite ist die Waffenruhe. Auch dies ist eine erstaunliche Leistung. Die bewaffneten palästinensischen Organisationen (»Widerstandsgruppen« oder »Terrororganisationen« je nach Geschmack) waren mit einer Feuerpause gegenüber Israel einverstanden – trotz der Tatsache, daß Israel ihnen gegenüber nicht offiziell eine Feuerpause erklärte.
Drittens: die schließlich erreichte Einheit. Die Übereinkunft von Hamas, sich in die Palästinensische Behörde einzugliedern (und vielleicht auch in die PLO) und sich an den Wahlen zu beteiligen, ist ein sehr wichtiger Schritt. Die Entstehung eines nationalen Einvernehmens verheißt Gutes für den zukünftigen palästinensischen Staat – besonders, da dies während eines intensiven nationalen Befreiungskampfes geschieht.
Viertens: die Veränderung der amerikanischen Haltung gegenüber dem palästinensischen Volk. Dies sollte vielleicht als erstes in der positiven Spalte stehen. Bis jetzt war die amerikanische Haltung gegenüber dem israelisch-palästinensischen Konflikt mindestens zu hundert Prozent zugunsten der Regierung Israels; jetzt gibt es eine Veränderung zugunsten der Palästinenser.
Abu Mazens Persönlichkeit ist ein beträchtlicher Teil dieser Errungenschaften zu verdanken. Yasser Arafat, der Führer des Befreiungskampfes, war eine kraftvolle, farbige, theatralische Persönlichkeit, die blinde Bewunderung oder glühenden Haß hervorrief. Fast jeder in aller Welt kannte ihn als den Mann in Khaki-Uniform und mit der Keffijeh als Kopfbedeckung. Abu Mazen ist fast genau das Gegenteil: introvertiert, moderat, ohne auffallendes Gehabe. Als ich ihn vor etwa 22 Jahren in Tunis kennenlernte, trug er schon einen Anzug mit Krawatte. Er ruft keine Opposition hervor. Er kämpft für seine Überzeugungen ohne viel Aufhebens.
Vielleicht hängen die negativen Punkte Abu Mazens auch mit diesen Charakterzügen zusammen. Arafat war Befehlshaber, Abu Mazen ist Pädagoge.
Die ganze Welt verlangt, daß er »Reformen« durchführt. Es ist nicht ganz klar, was die Welt damit zu tun hat oder was es den Präsidenten der Vereinigten Staaten angeht, wie die Palästinenser ihre Angelegenheiten regeln und wie viele Sicherheitsdienste sie haben. (Arafat hatte absichtlich mehrere bewaffnete Dienste eingerichtet, um die Konzentration von bewaffneter Macht in den Händen einer Person zu verhindern, die versucht sein könnte, einen Staatsstreich auszuführen.) Von Abu Mazen wird erwartet, die bewaffneten Organisationen in drei Diensten zu konsolidieren. Das ist auf dem Papier leicht getan, aber schwierig, in die Praxis umzusetzen. Es gibt viele Kommandeure, und die meisten haben Untergeordnete, die ihnen treu ergeben sind. Keiner sucht nach einer Gelegenheit, seinen Posten aufzugeben. Auf jeden Fall ist es schwierig, die verlangten Reformen auszuführen. In jeder arabischen Gesellschaft – und besonders in der palästinensischen – spielt die Hamulah, die Sippe, eine große Rolle. Jeder Versuch, sie bei der Umsetzung der Reformen zu ignorieren, stößt auf starken Widerstand. Abu Mazen muß langsam und vorsichtig vorgehen, um einen Konsens zu erreichen. Das ist ein langer Prozeß.
Aber das größte Versäumnis von Abu Mazen liegt in den Augen des Volkes auf nationaler Ebene: In den ersten hundert Tagen hat er nicht eine einzige bedeutsame Konzession erreicht, weder von Israel noch von den USA. Bush will ihm wirklich helfen. Er lobt ihn öffentlich, weist Scharons Bemühungen, ihn herabzusetzen, zurück, schickt ihm geachtete Botschafter. Aber nichts hat sich tatsächlich verändert: Die israelische Besatzung ist nicht erträglicher worden, die täglichen Demütigungen an den Kontrollpunkten gehen weiter und der Mauerbau auch. Kein einziger »Außenposten« ist abgebaut worden, die Siedlungen werden erweitert. Die israelische Armee benimmt sich in der Westbank, als wäre nichts geschehen; hier wird getötet, dort verhaftet. Es tut sich auch bei der Entlassung von Häftlingen kaum etwas. Die Israelis verhalten sich Palästinensern gegenüber im selben arroganten und demütigenden Ton wie Militärgouverneure gegenüber ihren Untertanen.
Wenn Bush über einen »Palästinensischen Staat mit vorläufigen Grenzen« spricht, versteht jeder Palästinenser, daß damit eine permanente Besetzung des größten Teils der Westbank gemeint ist. Scharons »Abzug« ist nach ihrem Verständnis ein Plan, der den Gazastreifen in ein großes Gefängnis verwandelt, der von der Welt und der Westbank abgeschnitten ist. Früher oder später wird die palästinensische Öffentlichkeit Abu Mazen fragen: Sind dies die Früchte der Waffenruhe? Ist das der Gegenwert amerikanischer Schuldscheine?
Man muß sich darüber keine Illusionen machen: Genau das ist es, was Scharon sich erhofft. Für ihn stellt Bushs Sympathie für Abu Mazen eine große Gefahr dar. Es paßt ihm gar nicht, daß er die Gunst Amerikas mit einem palästinensischen Führer teilt. Jede Schwankung in Washingtons totaler Unterstützung für die israelische Regierung läßt in Jerusalem ein rotes Warnlicht aufleuchten.
Scharon ist aber zu klug, um Abu Mazen direkt anzugreifen. Das würde Bush wütend machen. Deshalb heißt es jetzt: Abu Mazen ist zwar eine gute Person, aber zu schwach. Sein Regime bricht zusammen. Er ist verloren. Verschiedene Provokationen sind dafür bestimmt, gewalttätige Reaktionen hervorzurufen, um Abu Mazens Schwäche deutlich zu machen. Eine davon war die Ankündigung vom Bau 3500 neuer Wohneinheiten bei der Siedlung Maale Adumim. Dasselbe gilt auch für die Vorfälle, in der Palästinenser getötet wurden, ohne daß es jemand für notwendig hielt, die Verantwortlichen zu strafen oder sich für die Verletzung der Waffenruhe zu entschuldigen.
Abu Mazens Bilanz ist unausgeglichen. Wie die Kinder Israels muß er Ziegel ohne Häcksel produzieren.
Aber in der biblischen Geschichte gibt es ein Happy-End: Die Kinder Israels werden aus der Knechtschaft befreit.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; von der Redaktion gekürzt