Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Fremde Welten

von Ove Lieh

K.-J. Wussow ist hoch verschuldet, sein Vermögen ist mehr als aufgebraucht; ja, er soll sogar über eine Million Euro Schulden haben. Was empfinden Sie bei einer solchen Nachricht? Ja sicher, ein bißchen Mitleid, und es ist ja auch furchtbar, wie schlecht es selbst berühmten Ärzten in Deutschland geht. Und dennoch, können Sie sich seine Situation wirklich vorstellen? Sowohl die, als er noch reich und berühmt war, als auch die jetzige, wo der Reichtum völlig weg ist und die Berühmtheit immer mehr antiquarischen oder musealen Charakter erhält? Die Ehrfurcht vor seinem Können gleicht der vor Pharaonenmasken, die man zwar bestaunt, deren ehemalige Träger aber heute ohne jede Macht sind. Beeindruckend, aber vorbei!
Und nicht nur deshalb für die meisten Leute, die nicht dazugehören, unerreichbar, ja mehr noch, sogar unvorstellbar. Da kann sich jeder einbilden, was er will, wir können über unseren Tellerrand nicht hinaussehen, egal, wie gut der Teller gefüllt ist.
Oder weiß einer von Ihnen wie zum Beispiel Michael Schumacher wirklich lebt? Oder gar die wirklich Reichen, wie die Aldi-Brüder Albrecht, Herr Oetker oder die anderen Milliardäre? Was wir für eine Vorstellung vom Leben der anderen, insbesondere der sozial weit über uns oder auch unter uns Stehenden haben, dürfte fast vollständig aus Klischees, Versatzstücken aus Film und Fernsehen sowie reinen Phantasiegebilden bestehen. Deshalb sollten eventuell gar nicht so sehr Ossis und Wessis sich gegenseitig ihre Biographien erzählen, damit die Einheit Deutschlands wächst, sondern vor allem die Reichen und die Armen, die Politiker und die »normalen« Bürger, die Prominenten und die »Nobodies«, damit die Gegensätze zwischen ihnen nicht noch mehr wachsen, sie jedenfalls mehr voneinander wissen und weniger vermuten. Entweder verkrachen sie sich dadurch endgültig, oder sie haben noch eine Chance.
Noch aber gilt es offensichtlich als schick, von jenen unzugänglichen Bereichen der »besseren Gesellschaft«, aber auch der »schlechteren«, auf eine Art zu reden, die eine eigene Insiderschaft suggeriert. Leute, die in ihrem ganzen Leben keine Million verdienen werden, reden von Las Vegas, als könnte es für sie ohne weiteres Alltag sein, tausende Euros zu verzocken. Man gibt der eigenen, im Grunde verkorksten, Existenz einen besonderen Schimmer, indem man sie virtuell mit Elementen fremder, unerreichbarer Lebensweisen schmückt. Sehen Sie den Glanz in den Augen vieler Männer, wenn sie von der Harley oder vom Highway reden oder hören! Als ob sie gerade mit ersterer über letzteren gebraust und nur geboren worden wären, um wild zu sein. Dabei gleichen sie jenen wilden Vorbildern allenfalls hinsichtlich der Qualität ihrer Intimhygiene. Für den Rest sind sie keine Rocker sondern Eisenbahner, immer unterwegs in eingefahrenen Gleisen.
Schauen Sie selbst, bei welchen Gelegenheiten Sie von der eigenen Coolness förmlich erschauern, gewissermaßen vor lauter Respekt vor sich selbst erstarren. Vielleicht beim Gespräch über Segeljachten, große Autos oder »tollen« Sex. Alles Dinge, über die Sie meinen, bescheid zu wissen, die Sie aber in ihrem Leben nie haben werden, jedenfalls nicht aus eigener Kraft.
Dann spätestens wird klar, daß Sie unbedingt eine Zeit in den Kreisen verbringen sollten, über die Sie fachsimpeln wollen. Leben Sie ruhig eine Weile als Millionär, dann sehen Sie auch deren Leben in einem anderen Licht. Ach, sie haben nicht genug Geld dafür? Und das ist für Sie ein Hindernis? Dann haben Sie ja gar nicht das Zeug zum Superreichen, befinden sich ganz folgerichtig dort, wo Sie hingehören und sollten aufhören so zu tun, als verstünden Sie etwas vom Leben der Reichen oder auch nur vom Reichsein! Ein richtiger Reicher lebt nämlich auch dann noch als solcher, wenn er es längst nicht mehr ist.
Das Ding unter der Brücke müssen Sie ja nicht unbedingt gezielt herbeiführen, der Fall tritt vielleicht auch von ganz allein ein, jedenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit als der vorgenannte. Von den ganz Armen weiß aber immerhin auch so jeder Reiche, daß sie sich in ihrer Welt ganz wohl fühlen, zumindest lieber von »Stütze« leben als von Arbeit. Allerdings kenne ich unter den »Kennern« der Armenwelt keinen, der freiwillig seinen Job auf- und sich selbst zum Sozialamt begeben hätte.
Kaum jemand kann sich dem Reiz fremder Welten entziehen. Bei mir ist es die einsame Holzhütte in Kanada, die mich lockt. Möglichst am breiten Fluß, gern tief verschneit. Das muß ein herrlich freies Leben sein! Dabei weiß ich, daß ich ohne Wassertoilette und weiches Papier große Probleme hätte. Auf einer einfachen Holzpritsche schlafen, mit dem alten Bärenfell zugedeckt, im gleichen Raum, in dem auch gewohnt, gekocht und, zumindest im Winter, auch ausgetreten wird, das ist wahrscheinlich nur so lange romantisch, wie man es nicht tut, gar tun muß. Da ist mir mein Lagerfeuer im halbverwilderten Garten am ziemlich modernen Haus doch lieber. Und da kann ich ganz ungehemmt davon träumen, was wäre wenn …
Aber mit Wussow würde ich nicht tauschen wollen!