von Hermann-Peter Eberlein
Demokratische Verfassungen pflegen in den seltensten Fällen selbst demokratisch legitimiert zu sein; meist verdanken sie ihre Entstehung den gewalttätigen und eigentlich wirkmächtigen Eruptionen der Geschichte: Kriegen oder Revolutionen. Auch beim Grundgesetz stand schließlich vor der Annahme durch die Länderparlamente die dieses Ratifizierungsverfahren überhaupt erst ermöglichende Genehmigung der drei westalliierten Militärgouverneure.
Bei der künftigen EU-Verfassung freilich liegt der Fall anders. Sie markiert nicht einen Neubeginn, sondern nur eine Stufe auf dem Weg, der einst mit den Römischen Verträgen begann. Das erlaubt zwar am Ende einen demokratischen Ratifikationsprozeß durch Parlamentsbeschlüsse oder Volksabstimmungen, bedingt aber zugleich bei der Formulierung des Textes den Zwang zum Kompromiß und zur Regelung von Geschäftsordnungsfragen. Vielleicht liegt darin der Grund für das geringe Interesse, das der jüngst vom Europäischen Parlament mit überwältigender Mehrheit verabschiedete Verfassungsentwurf in der deutschen Öffentlichkeit findet. Abgesehen von dem Streit über die Erwähnung Gottes in der Präambel scheinen die Bestimmungen des Verfassungstextes bei niemandem große Emotionen auszulösen: Hartz IV hat die Gemüter bewegt, die Bilder von der Flut am Indischen Ozean haben eine Welle der Solidarität ausgelöst – dagegen scheinen die Artikel einer Verfassung, die in trockenem Juristendeutsch vor allem Zuständigkeiten und Verfahrensfragen zu regeln vorgibt, irrelevant.
Doch sie sind es mitnichten. Das geringe öffentliche Interesse macht es denen leicht, die mit Hilfe dieser Verfassung den politischen und ökonomischen Status quo – oder anders gesagt: einen neoliberalen Wirtschaftskurs – festschreiben und die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes bedienen wollen. So wird die Qualität der sozialen Marktwirtschaft durch die Betonung ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt (Art. I-3, 3), was die Möglichkeit etwa zu Lohndumping oder zur Abschaffung der Mitbestimmung in sich birgt (III-209); die Tendenz zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen – auch im Bereich von Gesundheit und Bildung – wird verstärkt (III-155, 1; III-315, 4), der Monetarismus gar Verfassungsgebot (III-177).
Besonders auffällig ist die Dominanz des Militärischen gegenüber zivilen Formen der Konfliktbearbeitung im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zwar werden in Artikel I-41, 1 noch zivile und militärische Mittel als gleichrangige Optionen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik genannt, aber schon die Ausführungsbestimmungen in Artikel III-309, 1 enthalten ein extrem weit gefaßtes Mandat für weltweite Militäreinsätze. Kriterien, wann militärische und wann zivile Maßnahmen zu ergreifen sind, fehlen, ebenso die Verpflichtung zur Bereithaltung ziviler Kapazitäten zur Schlichtung von Konflikten. Eine Europäische Verteidigungsagentur »für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeit, Forschung, Beschaffung und Rüstung« wird eingerichtet (I-41, 3) – an eine entsprechende Agentur für zivile Konfliktbearbeitung ist nicht gedacht, geschweige denn an eine für Abrüstung.
Aufgabe der Verteidigungsagentur soll unter anderem sein, »die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen« und »dazu beizutragen, daß zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen wirkungsvolleren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden« (III-311, 1). Aufrüstung wird so zum Verfassungsgebot: »Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern« (I-41, 3) – welche Sanktionen wird es wohl geben, wenn ein Staat nicht mitzieht? Ein ausdrückliches Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt in internationalen Beziehungen fehlt ebenso wie ein europaweites Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Das im Grundgesetz festgeschriebene Verbot, die Führung von Angriffskriegen vorzubereiten, wird durch die ausdrückliche Bereitschaft zur »Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet« (III-309) ausgehebelt, denn europäisches bricht nationales Verfassungsrecht. Kurz: Die Europäische Union positioniert sich als militärische Weltmacht gegen den US-amerikanischen Unilateralismus, aber mit gleicher Ausrichtung: der Bereitschaft zu »präventiven Kriegen«. Dazu ist eine Übereinstimmung nicht mit dem Wortlaut der Charta der Vereinten Nationen, sondern explizit nur mit ihren »Grundsätzen« vonnöten (I-3, 4; I-41, 1) – die aber sind dehnbar. Und daß die »Weiterentwicklung des Völkerrechts«, ins Belieben der Akteure gestellt, ihrer »strikten Einhaltung« (beides I-3, 4) diametral widersprechen kann, hat uns die Politik der letzten Jahre zu Genüge bewiesen …
Einige Abgeordnete der Linken haben im Europäischen Parlament gegen den Verfassungsentwurf gestimmt; Grüne planen eine europaweite Initiative, um noch Änderungen durchzusetzen; Gruppen der kirchlichen Friedensbewegung mahnen eine stärker friedensethische Orientierung an. Über den Erfolg dieser Unternehmungen braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben, solange es einträglicher bleibt, internationale und Bürgerkriegskonflikte durch Rüstungsproduktion und Waffenhandel anzufachen und am Leben zu halten, als jedesmal mühsam nach sozialem, ökonomischem und kulturellem Ausgleich zu suchen. Der Pest des Waffenhandels den Kampf anzusagen – diese Aufgabe bleibt anderen vorbehalten als den Vätern dieser Verfassung: den Völkern Europas. Ob sie sie je ergreifen werden?
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein