Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 27. November 2006, Heft 24

Berufsgeschwätztes

von Arnold Blowatz

Matthias Platzeck und sein Magdeburger Kollege Jens Bullerjahn haben sich wieder einmal von der Kette gelassen. Unter dem wundervollen Titel Mehr Lebenschancen für mehr Menschen wollen sie den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts erfinden. Die beiden Vordenker werfen sich vehement in die Schlacht um die programmatische Entleibung der SPD. Weshalb sie nicht für alle Menschen ein chancenreiches Leben einfordern, mag in ihrem humanistischen Widerstandsbild seine Erklärung finden.
Dem geneigten Versteher künden sie – ohne schlüssige Begründung –, daß das noch gültige Parteiprogramm der SPD von 1989 und der darin definierte Sozialstaat auf die heutigen, natürlich gewaltigeren Herausforderungen keine überzeugenden Antworten gäben. Ihr Gerede vom neuen Anderssein und ihrer Menschlichkeit bündeln sie in dem Satz: »Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts bietet der nachsorgende und überwiegend beitragsfinanzierte Sozialstaat bismarckscher Prägung keine sozialdemokratischen Prägungen mehr.«
Wieso eigentlich nicht? Geht es nach diesen beiden Helden, ist nicht die Politik ursächlich für soziale Verwerfungen der vergangenen Jahre verantwortlich, sondern ein Systemfehler im Sozialstaates. Auf Erklärungen meinen sie verzichten zu können, denn sie gehen davon aus, daß das deutsche Volk längst von allen Claqueuren des politischen Mainstreams reif gemacht worden ist, um den sozialen Todesstoß zu empfangen.
Da kommen die beiden ostdeutschen Muttersprachler gerade richtig. Fröhlich und verschmitzt stehen sie auf dem moralischen Podest der später Dazugekommenen und lehren gemeinsam mit den Wessis das Grauen. Hirnfrei dürfen Matthias und Jens deren Umbau vom Sozialstaat zum Erpresserstaat zuarbeiten.
Beide beherrschen die Klaviatur der leeren Worte großartig. Mit tränenerstickten Stimmen barmen sie um die ungebildeten und ungebrauchten Menschen, die sich in dieser Bundesrepublik so gar nicht heimisch fühlen dürfen. Und ihre besorgten Gedanken lassen sie bei der angeblichen Kausalität zwischen Arm und Dumm verweilen. Ihr Zauberwort heißt Bildung. Ungetrübt von der Wirklichkeit prasseln die Elogen auf das Lebenselixier Bildung herab. Da wird die Zukunft in Rosa gemalt. Endlich wird das Himmelreich auf Erden kommen. Der Mensch steht selbst bestimmt und selbst versorgt im Mittelpunkt seines Universums.
Die beiden Helden greifen tief in die Kiste mit Halbwahrheiten und Stammtischparolen. Denn sie wissen natürlich, daß Wissen und Bildung heute keineswegs belohnt werden. Schon gar nicht mit Arbeit. Die Arbeitslosigkeit bei den gut ausgebildeten Fünfzigern und den Berufsanfängern ist keinem Systemfehler des Sozialstaates geschuldet, sondern dem Systemfehler in der Wirtschaft.
Die demographische Bombe, die als Schimäre für alle totgerittenen sozialen Ideen dient, wird nicht explodieren. Denn es gibt sie nicht. Die Menschen werden nur älter. Damit ist nicht gesagt, daß sie notwendig als Erwerbstätige und Einzahler ausfallen. Die Schieflage der Systeme verursachen in Wirklichkeit die Manager und Aktionäre der von diesen Systemen profitierenden Unternehmen. Es sind die großen Rationalisierer und die von ihnen produzierte Lohnsenkung und Arbeitslosigkeit.  Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und Steuergeschenke für Unternehmen sind die Grundwerte dieser asozialen Politik.
Hier dagegenzusteuern, bedeutet längst keine Revolution, sondern lediglich ein Reförmchen in der liebgewordenen Marktwirtschaft. Nur die beiden sozialdemokratischen Politiker vermeiden willentlich, dies zu erkennen. Denn sie verfolgen den radikalen Abbau der sozialen Verantwortung und des solidarischen Konsens’ dieses Gemeinwesens. Ihren Abriß verbrämen sie geschickt: »Der Sozialstaat soll die Menschen aktivieren, ihr Leben in eigener Verantwortung zu gestalten … Der vorsorgende Sozialstaat ist kein Wachstumshindernis, sondern eine wirtschaftliche Produktivkraft.«
Für diesen Schwachsinn finden sie viele Worte, um dann zu sagen, daß sich jeder selbst der Nächste zu sein habe und daß die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen für diesen Staat Priorität hätten.
Ist es Naivität, Dummheit oder intellektuelle Verkommenheit? Egal. Sie machen diese Gesellschaft ein Stück mehr zur Diktatur. Denn der einzelne soll sehen, wie er durchkommt.
Für diese Thesen gab es aus den Reihen der brandenburgischen SPD entschiedene Kritik. Doch dies ficht den Matthias nicht an, denn es kam auch Lob. Die Vorsitzende der Landtagsfraktion der Linkspartei-PDS, Kerstin Kaiser, in Brandenburg begrüßte nach Presseberichten der Märkischen Allgemeinen das Papier als eine zutreffende Kritik der bisherigen Sozialpolitik. Da drängt sich die Frage auf, ob das Blinzeln nach der Macht, nicht doch blind macht.