Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 30. Oktober 2006, Heft 22

Schichtensehen

von Ove Lieh

Heimlich, still und leise ist er über uns gekommen, der Kommunismus. Niemand hat ihn bemerkt, obwohl es doch immer noch Leute geben soll, die ihn ersehnen. Vielleicht ist er nicht so aufgefallen, weil er noch nicht komplett eingezogen ist. Doch immerhin haben wir schon die klassenlose Gesellschaft (Franz Müntefering), für viele Menschen ist das Geld quasi abgeschafft, und nicht wenige bedienen sich am gesellschaftlichen Reichtum ganz nach ihren Bedürfnissen. Allerdings hapert es noch beim Einsatz des einzelnen entsprechend seiner Fähigkeiten, wie man unschwer an der Bundesregierung erkennen kann.
Woran es bei diesem und jenen noch so hapert, soll hier nicht erörtert werden, jedenfalls ist es interessant, mit welchen Ansichten man heute in der SPD ganz nach oben kommen kann; wenngleich die Partei einem dabei entgegenkommt – auf ihrem Weg nach unten.
Sollte nun aber ausnahmsweise einmal Herr Thierse recht und unsere Gesellschaft damit noch Klassen haben, dann existiert vielleicht die jüngst durch die Friedrich-Ebert-Stiftung entdeckte Unterschicht doch. Dann hätten wir vielleicht zwar eine »K«-Gesellschaft mit einem »mus« am Ende, nur eben nicht mit dem »ommunis«, sondern dem »apitalis« in der Mitte. Dann müßte man übrigens auch nicht mehr so genau überlegen, ob nun die SPD Schuld an der Entstehung der »neuen« (?) Unterschicht wäre oder die Ursachen schon zwanzig Jahre zurückliegen, sie lägen dann im System selbst. Weil man sich aber darauf wahrscheinlich nur schwer einigen kann, sollte man einen anderen Schuldigen benennen, nämlich das Fernsehen.
Lange vor der jetzigen Debatte gab es nämlich schon den Begriff Unterschichten-Fernsehen (Focus Nr. 32/2006) als Überschrift zu einer »Grusel-Dokumentation über TV-Angebote am Nachmittag«. Das Fernsehen hat sich offensichtlich innerhalb kürzester Zeit die von ihm benötigte Schicht selbst geschaffen. »Wir wissen alle, daß Fernsehen dick, dumm, traurig und gewalttätig macht,« stellte Bundesfamilienministerin von der Leyen fest, und ich grüble nun, ob sie mit »wir alle« nur die Angehörigen ihrer (Ober-) Schicht gemeint oder sie auch für mich als andersschichtigen Menschen mitgesprochen hat, womit sie dann allerdings unrecht hätte.
Denn ich weiß das nicht, was sie weiß, ich weiß ja auch nicht, ob jemand, der kein Fernsehen nutzt, dünn, klug, fröhlich und friedliebend ist, vermute aber, daß dem nicht so ist, denn Politiker schauen bekanntlich so gut wie nie fern. Deshalb bin ich ja auch in einer anderen Schicht. Ich weiß nur, daß Fernsehen gar nichts macht, so lange es keiner sieht. So wie ein Gewehr keine Menschen erschießt, solange es nicht benutzt wird, und Alkohol nicht betrunken macht, solange man ihn nicht zu sich nimmt. Ich will um Gottes Willen das Fernsehen nicht schönreden, aber man wird ja nicht dazu gezwungen, es oder womöglich sogar bestimmte Sendungen zu sehen.
Allerdings findet sich offensichtlich vorläufig zu jedem Gewehr einer, der damit schießt, zu jedem Fusel einer, der ihn säuft, und eben zu jedem Mist im Fernsehen einer, der ihn sieht. Es bleibt die Frage, was zuerst da war: die Kretins, die die »fraglichen« Sendungen sehen, die Kretins, die darin auftreten, oder diejenigen, die sie produzieren und senden. Vielleicht muß man ja auch schon ziemlich dick, traurig und dumm sein, um bestimmte Angebote zu nutzen?! Dann sollte man mal drüber nachdenken, was noch so alles auf Kinder einwirkt, bis sie dann irgendwann so sind, wie sie (angeblich) sind. Und vor allem, wer ihnen helfen soll, zu lernen, sich dagegen zu wehren. Denn das ist das Entscheidende.
Das berührt den Verantwortungsbereich der Familienministerin ausdrücklich. Allerdings müßte sie die tatsächlichen Zustände in realen Familien zur Kenntnis nehmen und nicht von irgendwelchen Wunschvorstellungen ausgehen. Ob man dann allerdings für jedes Problem »Frühwarnsysteme« staatlicherseits installieren kann und soll, dürfte fraglich sein. Das jetzt geplante bezieht sich nicht auf »dick, dumm, traurig oder gewaltbereit«, sondern auf »verdroschen, gequält und umgebracht«. Ein Frühwarnsystem für die Entstehung von Unterschichten hat es übrigens offensichtlich nicht gegeben.
Hätte es was genützt in einer Gesellschaft, die sich nicht einmal gegen das eigene Fernsehen wehren kann?
Übrigens, das Fernsehen kann uns die Welt erklären, die Politik offensichtlich immer nur ihren Bankrott.