Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 16. Oktober 2006, Heft 21

Ein veritables Trauerspiel

von Paul Oswald

Eigentlich ist es zum Lachen – wenn es nicht so traurig wäre: Den Politikern und den sie bedienenden Journalisten deutscher Qualitäts- und Großzeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehstationen fällt nach wie vor nichts zu dem anschwellenden Nazitum ein. Nach jeder Wahl das gleiche Gejammer, nach jeder Wahl das gleiche Herumstammeln, nach jeder Wahl nur Ekelpickel und die Forderung nach Isolierstationen. Und nach antifaschistischer Sozialarbeit und nach Aufklärung. Und nach »Projektgeldern« für Klubs und andere Freizeitstätten.
Das soll ja alles sein, das darf ja alles sein. Doch solange sich gescheut wird, die eigentlichen Ursachen zu ergründen, wird das alles nichts helfen. Offenbar gibt es in der deutschen Journalistik dieser Tage die Absprache, auf Argumente von Rechten nicht einzugehen. Die letzten Wahlabende waren wieder einmal exemplarisch für diese politische und journalistische Einfallslosigkeit. Fällt uns wirklich nichts weiter ein, als ihre Führer zu desavouieren? Woran mag es liegen, daß selbst den respektablen Politmoderatoren der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und den Journalisten, die in den Zeitungen für »rechts« zuständig sind, nur Häme einfällt?
Zugegeben: Es ist nicht leicht, angesichts des Führungspersonals sowie der Kandidaten beziehungsweise Abgeordneten rechter Parteien nicht zu spotten, nicht ironisch oder hämisch zu agieren. Aber sind diese Handvoll Aktivisten wirklich das Problem? Wie kommt es, daß scheinbar nicht erkannt wird, daß jeder Auftritt zum Beispiel eines NPD-Funktionärs in der TV-Fernsehrunde, der ausschließlich dazu dient, den Mann lächerlich zu machen, ihm mit seinen Wählern in einer Art Solidargemeinschaft vereint und ihm auch – was noch schwerer wiegt – neue Wähler zutreibt?
Der journalistische Umgang mit Nazis hat momentan noch in etwa die politische Qualität von »Nazis raus!«-Rufen und des Bekleckerns von NPD-Wahlplakaten, womit sich jene Kapuzen-Shirt-Krawallisten, die allen Ernstes links zu sein vorgeben, am Antifaschismus zu beteiligen pflegen. Es ist wahrlich keine Hohe Schule der Journalistik, NPD-Führer lächerlich zu machen, zumal es denen in der Regel an Übung fehlt; aber Lächerlichkeit ist kein Privileg rechtsgestrickter Politiker, mir fielen auf Anhieb viele andere, auch »demokratische« Namen ein … Die Wähler sind das Problem, die Wähler!
Vor allem in der Berichterstattung über die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern (in Berlin sind die Rechten marginal) fehlten wie selbstverständlich fast nie die Hinweise, die Rechten hätten die soziale Frage usurpiert, sie würden sich bei Arbeitslosen anbiedern, sich um Jugendliche, um Wohnungsfragen, um Kommunales dieser und jener Art kümmern. Und vorgetragen wurden und werden derartige »Entlarvungen« meist mit einem Grundton der Entrüstung. Unerhört!
Selbst einmal als gegeben vorausgesetzt, das NPD-Führerkorps Mecklenburg-Vorpommerns mit dem Neu-Lübtheener Kaufmann Udo Pastörs (gebürtig aus Herren-Deutschland) an der Spitze habe »Rattenfängerambitionen« und die Lage der Pauper an Peene, Uecker und Müritz seien ihnen in Wirklichkeit ziemlich schnuppe und sie benötigten sie eigentlich nur, um an ein Stückchen Macht zu gelangen, selbst dann darf wohl gefragt werden: Wo sind denn dort die Parteien, die als etablierte Parteien gehandelt werden? Haben sie womöglich Bürgerbüros mit Abgeordnetenbüros vertauscht? Wo sind denn die Beratungsstellen, wo sind die Parteidemokraten, die den Leuten nicht nur Pamphlete in die Briefkästen stecken, sondern ihnen helfen, Fragebögen auszufüllen. Und damit meine ich mitnichten nur die PDS, obwohl gerade sie sich meiner Meinung nach durch soziale Kompetenz auszeichnen dürfte. Doch von einem Jagdhund, den man zur Jagd tragen muß, ist nichts mehr zu erwarten.
Wie also ist es denn mit der sozialen Kompetenz unter Politikern bestellt? Ich schreibe diese Frage hier hin, ohne eigentlich genau zu wissen, was das sei, »soziale Kompetenz«. Zugegeben, das ist etwas leichtsinnig. Vor Jahrzehnten, als ich mich an einer polnischen Kollegin als Agitator versuchte (Thema: Bitterfelder Weg), wurde mir freundlich, kurz und bündig eine Lehre zuteil, die ich seither in mir herumtrage; sie ging so: Thomas Mann, so Anna Str., sei auch nicht lungenkrank gewesen, und habe dennoch den Zauberberg
Doch werde ich von Zeit zu Zeit immer wieder »rückfällig«. Zum Beispiel glaube ich einfach nicht daran, daß Parteien, die heute wie Unternehmen nach Marketing- und BWL-Regeln organisiert sind, ein Heimstatt für Unterprivilegierte sind.