von Ove Lieh
Die Welt wird immer komplizierter. Damit haben nach Meinung des Chefredakteurs der nach eigenen Angaben größten Thüringer Tageszeitung die Ostdeutschen offenbar mehr Probleme als andere: »Das Denken in komplexen Zusammenhängen fällt zwischen Rügen und Erzgebirge offenbar besonders schwer.« Deshalb werde ich auch immer gleich so komplexdenkend, wenn ich mal nicht mehr dort, sondern zum Beispiel in Bayern bin. Dort denken die Leute bekanntlich so komplex, daß sie sprachlich mit dem Denken gar nicht mehr mitkommen.
Ich muß also warnen: Es kann sein, daß ich den komplexen Zusammenhang, der zur Debatte steht, gar nicht richtig denken kann. Es geht um die Folgen der Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern. Genau genommen darum, warum die Nazis in den Landtag eingezogen sind. Schuld seien neben »Teilen der Jungen, die bekannter Weise auf Grund schlechter Ausbildung und schlichten Denkvermögens das Gros der Anhänger der Rechtsradikalen stellen«, vor allem jene, »die trotz sicherem Arbeitsplatz und trotz auskömmlichen Einkommen nicht bereit sind, zur Wahl zu gehen. Erst ihre Verweigerung gibt radikalen Randgruppen die Möglichkeit, auch mit einer geringen Stimmenzahl in einen Landtag einzuziehen.«
Das nun wieder würde die Urlauber abschrecken. Nazis schaden dem Tourismus! Deshalb muß man ihre Wahl verhindern. Das jedenfalls soll man wohl erkennen können, wenn man komplex denkt. Vielleicht sollte man doch einmal etwas komplexer darüber nachdenken, warum die Leute das, was da zur Wahl steht, nicht wählen wollen. In der oben zitierten Tageszeitung wird der Landesregierung Thüringens übrigens gerade ein solches Armutszeugnis ausgestellt, das jeden einigermaßen anständigen Politiker zu komplexen Rücktrittsgedanken treiben würde. Aber immerhin, es bleibt der komplexe Gedanke, daß in der Demokratie nichts passieren sollte, was der Wirtschaft schadet.
Darf aber in der Wirtschaft etwas passieren, was der Demokratie schadet? Warum sind eigentlich gerade im Osten so viele der Jungen schlecht ausgebildet und schlicht denkend, daß sich jetzt sogar der Bundespräsident dafür schämt?
Oder hat Ex-Regierungssprecher Heye recht, der meint, daß einer der Gründe für die Erfolge der Rechten im »Erbe der DDR, wo keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewachsen ist«, wurzelt? (Deshalb hat Herr Schäfer jüngst in Weimar auch gar nicht erst versucht, über die Untaten der Faschisten zu reden. Davon versteht doch im Osten sowieso keiner was. Aber von Vertreibung, worüber er dann sprach, schließlich sind viele von denen dort inzwischen selbst auch vertrieben worden: vom Arbeitsplatz, der Parzelle oder aus der Wohnung).
Im Westen dagegen seien »durch die von der 68er Generation angestoßene, sehr viel intensivere Befassung mit dieser Vergangenheit die zivilgesellschaftlichen Widerstandskräfte gestärkt worden«.
Der Westen hatte es aber auch viel einfacher, weil er viel mehr Nazis hatte, auch in der Öffentlichkeit, wo sie jeder sehen konnte und erleben, daß sie politisch auch nicht mehr taugen als die anderen. Sogar eine spezielle Partei hatten die. Der Osten dagegen mußte sogar eine Mauer bauen, die deshalb auch »antifaschistischer Schutzwall« genannt wurde, damit ihm die letzten Nazis nicht wegliefen. Einsperren konnte man die nicht, weil die in Frage kommenden Einrichtungen bekanntlich allesamt mit Unschuldigen überfüllt waren.
Ich muß gestehen, daß ich mich tatsächlich nicht daran erinnern kann, daß die Tourismusschädlichkeit im Zentrum der Auseinandersetzung mit den Faschisten stand, ganz im Gegenteil, es hieß immer, die wären seinerzeit der Wirtschaft irgendwie nützlich gewesen. Und zu diesen äußeren Umständen kam dann noch die völlige Abwesenheit der Fähigkeit zum Denken in komplexen Zusammenhängen. Hätten die Ostdeutschen diese allerdings gehabt, hätte man während und nach der sogenannten Wende vielleicht nicht ganz so mit ihnen umgehen können. Vielleicht hätte Deutschland eine neue Verfassung und eine bessere Demokratie, in der man die Leute nicht betteln müßte, zur Wahl zu gehen!
Und Nazis hätten dann wahrscheinlich nicht die Spur einer Chance!
Kann aber sein, der Chefredakteur hat recht: »Noch ist Zeit, wenn auch wenig Hoffnung.«
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