Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Der feine Unterschied

von Martin Nicklaus

Aus Sicht seiner Gegner war das plötzliche Verschwinden des Sozialismus seine letzte und zugleich unverschämteste Unbotmäßigkeit, kam ihnen doch der Popanz für Bedrohungsszenarien, Überwachungsphantasien und die Begründung militärischer Interventionen abhanden. Inzwischen wurde das durch den Krieg gegen den Terror kompensiert. Nur im Kleinen, insbesondere im geistig Kleinen der Innenpolitik, fehlt das klare Feinbild noch bitter, weshalb der längst tote Sozialismus von verschiedenen Interessenten ständig wiederentdeckt wird, sozusagen als Phantomschmerz. Zur Wahl im Jahre 2005 verzichtete FDP-Chef Guido, sich durch eine 18 auf der Schuhsohle lächerlich zu machen, trat statt dessen mit der Parole »Freiheit statt Sozialismus« an. Das besonders Originelle daran: 1976 kämpfte die CDU mit gleichem Vers. Überhaupt ist Guido der absolute Sozialismusfinder. Gerade hat er ihn im Umfeld von Stoiber entdeckt.
Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, erklärte im ZDF-Morgenmagazin allen Ernstes: »Unsere Gesellschaft und unsere Parteien haben vierzig Jahre den Sozialismus inhaliert.« Fragt sich, was Norbert so inhaliert. Ob er hyperventilierte, als er im Ahlener Programm der CDU las? Dort steht: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden«.
Hans-Ulrich Jörges verkündete im Stern gar: »Der Kommunismus siegt.« Mit dramatischer Ahnungslosigkeit, Tatsachenverdrehung und viel Polemik erklärte er, eine vierköpfige Hartz-IV-Familie bekäme fürs Nichtstun 2000 Euro, und das wäre Kommunismus. Offensichtlich verwechselt Uli die Kommunismustheorie mit dem Märchen vom Schlaraffenland. In Anlehnung an eine Bemerkung von Hoimar von Ditfurth könnte man sagen: Wenn sich Jörges nicht den Vorwurf einer ideologischen Verblendung gefallen lassen will, müßte er sich auf mangelnde Intelligenz berufen. In seiner hetzenden Unsachlichkeit liefert sein Text ein interessantes Gleichnis zu einer kruden Ausgeburt des real existierende Sozialismus, dem Schwarzen Kanal.
Schön war auch eine Bemerkung von Großkorruptionär Werner Müller. Gegenüber Cicero, dem Denkorgan für die Teuergekleideten, erklärte er: »Die Sozialismen in unserer Gesellschaft müssen zurückgedrängt werden«. Der an sich sinnlose Plural folgt wohl der Devise: Viel Feind, viel Ehr. Dabei ist gerade Werners Konzern, die RAG, wieder ein schönes Beispiel für Elemente des Sozialismus. Beinahe konkurrenzlos agiert sein Unternehmen wie einst in der DDR ein Kombinat und wird genauso subventioniert.
Auch auf anderen Gebieten lassen sich erstaunlich undiskutierte Gleichnisse zur DDR finden. Nehmen wir nur einmal den Staatsbesuch von Bush II. in Trinwillershagen, wo bereits Ulbricht weilte. Ganz wie zu Walter Ulbrichts Zeiten wurde der Ort geschniegelt, in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt und mit handverlesenem Jubelpublikum bestückt.
Oder nehmen wir den Willen zur Dummhaltung von Menschen. Im Stile des holzschnittartigen Agitprops von SED oder FDJ agieren inzwischen unzählige bunte Propagandaapparate.
Ähnlichkeiten auch beim Zustand öffentlicher Gebäude wie Schulen, von denen der Putz bröckelt analog den Häusern im Prenzlauer Berg 1989. An Honeckers Weg von Wandlitz zur Arbeit wurden die Fassaden aller Gebäude gerade so hoch renoviert, wie er sie aus dem Autofenster sehen konnte. In Anlehnung an diese Praxis erhielt um die Jahrtausendwende der Jahnsportpark zur Wahrung des äußeren Scheins für Bundestagabgeordnete, die dort hin und wieder den Rasen vom Kleinen Stadion zertraten, einen neuen Zaun, während die kaputten Duschräume weiter vor sich hin schimmelten. Wandlitz als Synonym für die Ghettoisierung der Elite findet zwar bisher noch kein adäquates Gleichnis, aber elitäre Wohngegenden hatten sich schon längst zuvor herausgebildet, und folgt der Trend internationalen Entwicklungen, werden wohl bald auch in Deutschland bewachte Wohnfestungen geschaffen.
Bei der Betrachtung der Parteilandschaft drängt sich eine weitere Assoziation auf: Blockparteien, wohin man schaut. Politiker, die ein Haar in vier Teile spalten, sind in der großen Linie uniform wie ihre Kleidung.
Damit soll allerdings kein Gleichheitszeichen zwischen der Bundesrepublik von heute und der DDR gesetzt werden. Versuchten die SED-Genossen, die Volkswirtschaft per Zentralplanung zu zerstören, probieren die Meisterökonomen dieser Tage es mit neoliberalen Doktrinen. Statt des Historischen Materialismus führt uns nun eine unsichtbare Hand. An Stelle der Politisierung aller Lebensbereiche trat deren Ökonomisierung. Zur Volksdisziplinierung äußerte sich einst Heiner Müller: Was im Osten die Stasi erledigte, besorgt im Westen die Arbeitslosigkeit.
Das Ganze begleiten stromlinienförmige Massenmedien, die bestenfalls in Nuancen verschiedene Ansichten verkünden. Wer etwas über tiefere Zusammenhänge oder alternative Ansichten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfahren will, muß Erkenntnisse suchen, muß Bücher lesen, ins Theater gehen, mutig Diskussionen führen und vor allem: selbst denken. Auch hier eine Analogie zur DDR, in der zumindest den Engagierten diese Kanäle zur intellektuellen Erbauung, wenn auch nur bedingt, offenstanden. Solch Engagement stellt den Kampf gegen eine Entropie dar, deren Endstadium, egal welche Wirtschafts- und Sozialordnung im Hintergrund wirkt, eine dumpfe, eindimensionale, autoritäre Gesellschaft bildet.
Ein feiner Unterschied allerdings bleibt gravierend: Auf gesellschaftskritische Texte stand in der DDR Gefängnis, in der Bundesrepublik Mißachtung. Aber mit der Ursprungsidee von Sozialismus hat all das hier wenig zu tun.