Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Kiewer Zwickmühle

von M. R. Richter

Im März 2006 wählte die Ukraine ihr neues Parlament. Endlich wollten die Sieger der »orangenen Revolution« ihre eigenen Mehrheitsverhältnisse in der Werchovna Rada bekommen. Die Gralshüter von Demokratie und Menschenrechte in Washington, London, Warschau und so weiter waren dann auch des Lobes voll über den zutiefst demokratischen Wahlablauf. Anfänglich befriedigte auch das Wahlergebnis: Der »orangene« Block, bestehend aus Juschtschenkos Unsere Ukraine, aus dem Block Julia Timoschenko (BJuT) und den Sozialisten unter Führung von Moroz hatten in der Summe die Mehrheit der Parlamentssitze gewonnen. Als kleinen Schönheitsfehler vermerkte man lediglich, daß die vor allem in der Ost- und Südukraine verankerte Partei der Regionen unter dem früheren Premier und in der ominösen Präsidentenwahl von 2004 dem jetzigen Amtsinhaber Juschtschenko unterlegenden Viktor Janukowitsch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen errungen hatte und auch die Kommunisten die Barriere überwanden und im Parlament vertreten sind. Alle anderen Parteien waren an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.
Alles schien klar: Unsere Ukraine, BJuT und die Sozialisten schmieden ihre Koalition, Moroz wird Parlamentssprecher und Timoschenko Premierministerin. So hatten sich das zumindest diese beiden gedacht. Doch die Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung verzögerte sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, zu groß waren die Differenzen in den programmatischen Vorstellungen, zu schwerwiegend die persönlichen Unverträglichkeiten der Führer. Julia Timoschenko vertritt einen national-populistischen Antikorruptionskurs, schließlich weiß sie am besten aus ihrer Zeit als Chefin der ukrainischen Gasholding in den neunziger Jahren, was sich durch Korruption erreichen läßt. Derzeit verficht sie eine nationalistische Wirtschafts- und Privatisierungsstrategie.
Darin stimmen die Sozialisten mit ihr überein, die die Privatisierung stoppen und möglichst umkehren wollen. Keine Deckungsgleichheit findet sie mit Juschtschenko und dessen Clan unter Führung von Poroschenko, der grauen Eminenz in der Umgebung des Präsidenten. Diesem Kreis geht die Antikorruptionspropaganda schon längst zu weit, bereits eng verflochten mit westlichem Kapital, möchten sie die Privatisierung weiter vorantreiben. Diese Konflikte spitzten sich in der Festlegung auf den zukünftigen Premier zu: Unter keinen Umständen wollte die Juschtschenko-Partei ihr Einverständnis zur Kandidatur von Frau Timoschenko geben, sicherlich auch auf Betreiben einflußreicher US-amerikanischer Freunde.
So vergingen April und Mai. Schon sprachen die Auguren von Neuwahlen. Die ukrainische Verfassung gäbe diese Lösung her: Wählt das Parlament innerhalb von neunzig Tagen keine Regierung, so kann der Präsident es auf Grund erwiesener Handlungsunfähigkeit auflösen und Neuwahlen anordnen. Es wurde bald offensichtlich, daß Julia Timoschenko genau diese Strategie verfolgte. Ihre Rechnung war einfach: Juschtschenkos Unsere Ukraine hatte durch die beharrliche Weigerung, sie auf den Premiersessel zu setzen, bei der orangenen Anhängerschaft Einfluß und Wahlstimmen verloren. Die anhaltende Verschlechterung der sozialen Lage der breiten Massen würde ebenfalls Juschtschenko und seiner damals noch amtierenden Regierung angelastet werden. Die Parteien der Sozialisten und der Kommunisten hätten Mühe, wieder ins Parlament einzuziehen, vielleicht würde sogar Unsere Ukraine an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Janukowitsch, glaubte sie, nach dem Muster der orangenen Revolution überwinden zu können – und sei es mit Hilfe von Straßenkämpfen. Nichts stände dann mehr zwischen ihr und der Macht. Schließlich würde sie bei dem kommenden Präsidentschaftswahlen gegen Juschtschenko antreten und sich selbst in den Präsidentensessel setzen. Schade nur, daß ihr kein Zwilling zur Seite steht, um die absolute Macht im Staat zu sichern.
Solche und ähnliche Überlegungen müssen aber auch andere angestellt haben, denn Anfang Juni erschütterte die politische Landschaft ein Donnerschlag: Moroz schied mit seinen Sozialisten aus der »orangenen« Koalition aus, und es bildete sich eine neue, die sogenannte Antikrisis-Koalition aus Janukowitschs Partei der Regionen, Moroz’ Sozialisten und den Kommunisten. Damit waren die Orangenen plötzlich in der Minderheit. Die neue Mehrheit wählte Moroz zum Parlamentssprecher, einen Kommunisten zu seinem Stellvertreter und schlug dem Präsidenten Janukowitsch als Premier vor. Daß Frau Timoschenko dem abtrünnigen Moroz Bestechlichkeit vorwirft, wird sicherlich niemanden verwundern.
Der Vorschlag für den Premier ging dem Präsidenten noch innerhalb der Neunzig-Tage-Frist zu. Jetzt lag der Ball bei Juschtschenko. Doch dieser tat das, was er zumeist tut – er zögerte. Weder brachte er den Vorschlag für den Premier im Parlament zur Abstimmung, was seine verfassungsgemäße Pflicht gewesen wäre, noch löste er das Parlament auf. Unterdessen blies BJuT zur Attacke: Ihre Fraktion verließ den Sitzungssaal und versuchte so, das Parlament handlungsunfähig zu machen und Neuwahlen zu erzwingen. Gleichzeitig rief Frau Timoschenko ihre Sturmabteilungen auf Straßen und Plätze, die siegreiche Massenrevolution von 2004 zu wiederholen.
Juschtschenko steckte in der Zwickmühle: Ließ er Janukowitsch auf den Stuhl des Premiers, verlor er sowohl den Rückhalt seiner Freunde im Ausland als auch seiner Anhänger in der Ukraine. Die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen hätten ihm den Vorwurf des Verfassungsbruchs und das Risiko eines Impeachment-Verfahrens eingebracht. Er tat das, was Politiker in solchen Fällen meistens tun: Er ging mit den stärkeren Bataillonen und ließ über Janukowitsch abstimmen. Zuvor aber ließ er ihn und Moroz ein »Universal der nationalen Einheit« unterzeichnen – ein Feigenblatt, mit dem er vor seinen Anhängern die Ziele der orangenen Revolution retten wollte.
Mittlerweile sind etwa zwanzig Abgeordnete der Orangenen zu Janukowitsch übergelaufen. Der Block Julia Timoschenko schloß seine fünf Abweichler sofort aus seinen Reihen aus; Unsere Ukraine könnte vor einer Spaltung stehen. Die neue Koalition verfügt über eine satte Mehrheit. Der neue Premier wird allem Anschein nach die »Vielvektorpolitik« des früheren Präsidenten Kutschma fortsetzen – gute Beziehungen zu Rußland und zum Westen, von allen alle Vorteile einfordern. Ob dies auf Dauer gut geht? Auf jeden Fall wurde die staatliche Einheit der Ukraine noch einmal gesichert.