Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Das 155. Opfer

von Uri Avnery, Tel Aviv

Nach jedem verlorenen Krieg wird in Israel der Ruf nach einer offiziellen Untersuchung laut. Es herrscht im jetzigen Moment ein »Trauma«: viel Bitterkeit, das Gefühl, besiegt worden zu sein und eine Gelegenheit verpaßt zu haben. Daher der Ruf nach einer starken Untersuchungskommission, die die Verantwortlichen um einen Kopf kürzer machen soll. Auch dieses Mal versucht die politische und militärische Führung jegliche ernsthafte Untersuchung zu verhindern. Amir Peretz hat eine Kommission mit treuen Gefolgsleuten besetzt, um alles überspielen zu können. Doch der öffentliche Druck verstärkt sich ständig, und die Chancen stehen nicht schlecht, daß am Ende kein anderer Ausweg bleiben wird als eine Kommission mit gerichtlichen Befugnissen.
Im allgemeinen bestimmt der, der eine Untersuchungskommission einberuft und ihre Kompetenzen bestimmt, auch die Ergebnisse. Nach israelischem Gesetz ist es die Regierung, die solch eine Kommission beruft und ihre Kompetenzen bestimmt. Als Mitglied der Knesset habe ich seinerzeit gegen diesen Paragraphen gestimmt. Die Zusammensetzung der Kommission wird vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes festgelegt. Wenn es zur Zusammenstellung einer solchen Kommission kommt, dann nehme ich an, daß der Vorsitzende des Gerichts, der hochangesehene Richter Aharon Barak, sich selbst für diese Aufgabe ernennen wird.
Wenn es nun tatsächlich zur Aufstellung einer solchen Kommission käme, was gilt es zu untersuchen? Die Politiker und Generäle werden sich bemühen, die Untersuchung auf technische Aspekte der Kriegsführung zu beschränken. Die Regierung wird versuchen, den Fokus der Untersuchung zu erweitern und einen Teil der Schuld auf ihre Vorgänger zu lenken. All dies zu klären ist sicherlich notwendig. Aber noch wichtiger wäre es, die Wurzeln dieses Krieges zu erforschen.
Was hat das Trio Olmert-Peretz-Halutz dazu bewegt, nur wenige Stunden nach der Gefangennahme der zwei Soldaten einen Krieg zu beginnen? War es bereits im vorhinein mit den Amerikanern abgesprochen worden, in den Krieg zu ziehen, sobald sich ein glaubhafter Vorwand finden ließe? Haben die Amerikaner Israel zu diesem Krieg gedrängt und während seines Verlaufes immer wieder ermuntert, so weit wie irgend möglich zu gehen? War es faktisch Condoleeza Rice, die entschied, wann zu beginnen, wann aufzuhören sei? Wollten die USA uns in eine Verstrickung mit Syrien hineinziehen? Haben die USA uns für ihre Kampagne gegen den Iran benutzt?
Auch das ist noch nicht genug. Es gibt noch grundlegendere und wichtigere Fragen. Dieser Krieg hat keinen Namen. Sogar nach 33 Kampftagen hat sich noch kein naheliegender Name finden lassen. Die Medien nennen ihn bisher schlicht II. Libanon-Krieg.
Auf diese Weise wird der Krieg im Libanon abgetrennt von dem, der parallel dazu im Gazastreifen geführt und nach dem Waffenstillstand im Norden unablässig weitergetrieben wird. Haben diese Kriege einen gemeinsamen Nenner? Sind sie vielleicht sogar ein und derselbe Krieg? Die Antwort ist mit Sicherheit Ja. Der eigentliche Name dieses Krieges ist: der Krieg für die Aufrechterhaltung der Siedlungen. Der Krieg gegen das palästinensische Volk wird betrieben, um die Siedlungsblöcke halten und weite Teile der Westbank annektieren zu können. Der Krieg im Norden wurde geführt, um die Siedlungen auf den Golanhöhen zu halten.
Hisbollah ist mit Unterstützung Syriens, das früher den Libanon beherrschte, herangewachsen. Hafez al-Assad sah in der Rückkehr des Golans zu Syrien sein Lebensziel – schließlich war er es, der sie im Krieg von 1967 verloren hatte, und dem es 1973 nicht gelungen war, sie zurückzuerobern. Er wagte nicht einen weiteren Krieg an der israelisch-syrischen Grenze, die ja Damaskus so nahe ist. Daher versorgte er die Hisbollah, um Israel davon zu überzeugen, daß es ohne die Rückgabe des Golans niemals Ruhe haben werde. Assad Jr. setzt das Erbe seines Vaters in diesem Sinne fort. Ohne die Kooperation Syriens hat der Iran keine Möglichkeit, Waffen an die Hisbollah zu liefern.
Die Lösung liegt auf der Hand: Wir müssen die Siedler von dort zurückholen und den Golan an seine rechtmäßigen Besitzer zurückgeben, wie groß auch immer der Preis an Wein und Mineralwasser sei. Ehud Barak hat dies beinahe getan, aber – wie es seine Gewohnheit ist – in letzter Sekunde die Nerven verloren.
Es muß laut gesagt werden: Jeder der 154 getöteten Israelis des II. Libanon-Krieges starb für die Siedler der Golanhöhen. Das 155. Todesopfer dieses Krieges ist der »Konvergenzplan« – der Plan, der den unilateral bestimmten Rückzug aus Teilen der Westbank vorsah.
Ehud Olmert wurde vor vier Monaten – kaum zu glauben, nur vier Monate ist das her! – vor dem Hintergrund des Konvergenzplanes gewählt, ganz ähnlich, so wie Amir Peretz als Befürworter einer Truppenverkleinerung und weitreichender sozialer Reformen gewählt wurde. Während des Krieges noch hat Olmert verkündet, daß er den Konvergenzplan umsetzen werde. Aber unterdessen mußte er zugeben, daß wir ihn wohl vergessen können. Die Konvergenz sah vor, 60000 Siedler zu entfernen, 400000 andere jedoch in der Westbank (einschließlich der Jerusalem-Region) zu belassen. Nun wurde auch dieser Plan beerdigt.
Was bleibt? Kein Frieden, keine Verhandlungen, keinerlei Lösung für den mittlerweile historisch zu nennenden Konflikt. Auf Jahre hin komplett festgefahren, zumindest bis wir das Duo Olmert und Peretz los sind.
In ganz Israel wird bereits über die »nächste Runde« geredet, über den Krieg, der endgültig mit der Hisbollah aufräumt und sie dafür straft, unsere Ehre beschmutzt zu haben. Die Gewißheit, daß ein weiterer Krieg kommen wird, ist zu einer Binsenweisheit geworden. Selbst die Zeitung Ha´aretz bezeichnet in ihren Leitartikeln den nächsten Krieg als selbstverständlich. Was hingegen den Süden angeht, wird – da die gegenwärtige Runde endlos ist – nicht von einer nächsten Runde gesprochen.
Um überhaupt irgendeinen Wert zu haben, muß die Untersuchungskommission die wahren Wurzeln des Krieges aufdecken und der Öffentlichkeit die historische Wahl, die sich in diesem Krieg so deutlich abgezeichnet hat, präsentieren: Entweder die Siedlungen und endloser Krieg oder Rückgabe der besetzten Gebiete und Frieden.
Andernfalls wird die Untersuchung nur Unterstützung für die Perspektive der Rechten liefern: Wir müßten nur die Fehler, die gemacht worden sind, herausfinden und korrigieren, dann könnten wir den nächsten Krieg beginnen und würden siegen.

Aus dem Englischen von Christoph Glanz, redaktionell gekürzt