Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 7. August 2006, Heft 16

Chapeau, Deutschland!

von Klaus Hansen

Kündigte sich ein neuer Patriotismus an, vielleicht sogar ein neuer Chauvinismus? Deutschland, Deutschland über alles habe ich zwischen Leipzig, Berlin und München nirgendwo gehört, wohl aber: »Deutschland ist der geilste Club der Welt«. Der FC Deutschland 06 wird mit dem FC St. Pauli gleichgesetzt. Die solches grölen, sind bereits fahruntüchtig und haben eines mit allen anderen Fußballfreunden gemeinsam: Sie wollen feiern, sie wollen sich die Kante geben, sie wollen Party machen. Party machen ist ein Hauptwort unserer Zeit. Kein Arbeitstag mehr ohne After-Work-Party, Partyotismus statt Patriotismus. Hoffentlich.
Unschuldsmiene. »Er sieht nicht gefährlich aus«, sagt ein alter Weggefährte über Mittelstürmer Klose, »aber er ist gefährlich, brandgefährlich.« Ist Torjäger Klose das Gesicht Deutschlands?
Finnland war nicht dabei. Der PISA-Sieger hatte es nicht unter die 32 Mannschaften der Endrunde geschafft. Das allein rechtfertigt schon die Frage: Was ist ein PISA-Sieg wert? Vielleicht ist Finnland gar nicht das Musterländle, als das es uns von interessierter Seite eingeredet wird. Die höchsten Selbstmord- und Alkoholiker-Quoten Europas sprechen nicht gerade für das Land. Außerdem machen sie »da oben« die primitivste Musik der Welt, wie gerade erst die Band Lordi im European Song Contest bewiesen hat. Aber sie gewinnen Wettbewerbe damit, Hard Rock Hallelujah! Wettbewerbe des schlechten Geschmacks, wie sie bei uns täglich die BILD-Zeitung für sich entscheidet, denn zwölf Millionen Leser können bekanntlich nicht irren! Vielleicht verhält es sich ja auch so mit der PISA-Studie: Das Schlechte wird ausgezeichnet, nicht das Gute, und das Ausgezeichnete wird uns als Güte verkauft.
Daß die Finnen im Fußball nicht dabei sind, wirft ein bedenkliches Licht auf sie. Denn im Fußball gewinnt nicht selten auch der Schlechtere. Wie sonst hätte Deutschland dreimal Weltmeister werden können! Aber die Finnen scheinen noch schlechter als schlecht zu sein.
»Fußball ist Krieg«, sagt Per Olov Enquist aus Schweden, »aber ohne Feinde.« »Fußball ist Krieg«, sagt Tim Parks aus England, »aber ohne Waffen.« »Fußball ist Krieg«, sagt Hwang Chi-Woo aus Korea, »aber ohne Tote.« »Keine Feinde, keine Waffen, keine Toten«, fragt Herr K., »aber Krieg?«
McKlinsi. Trotz der Niederlage gegen Italien ist Klinsmann nun unangefochten. Seine eigenwilligen Entscheidungen der vorigen Monate: allesamt richtig. Was Klinsmann predigt, ist politisches Programm, denn was er von den Spielern fordert, verlangt er von allen Deutschen: Die Spieler müssen wieder intensiver trainieren, das heißt mehr arbeiten.
Die Eigenverantwortung des einzelnen und der Glaube an sich selbst seien täglich zu stärken; dazu seien alle Mittel erlaubt, auch Voodoo-Naidoo-Methoden. Jeder Spieler besitze körperliche und mentale Reserven, die mit wissenschaftlicher Unterstützung zu aktivieren seien. Unausgeschöpfte Ressourcen würden nicht länger geduldet. Ein Spieler mit dem Kampfnamen »Ente Lippens«, der von sich sagt, er habe als Fußballer nie eine Chance hastig vergeben, sondern lieber gemütlich vertändelt, wäre in der Klinsmann-Welt eine Persona non grata.
Auch mittelmäßige Begabungen können Weltmeister werden, sagt Klinsmann, wenn nur die Fitness stimme und der Mannschaftsgeist (Teamspirit heißt selbst der Ball!) überragend sei. Beides ließe sich systematisch erzeugen, deshalb gehörten Physio- und Psycho-Profis zum engen Trainerstab. Während man sich daheim akribisch vorbereite und von Laktatwerten bestimmen lasse, seien in aller Spione Welt unterwegs, um ebenso akribische Dossiers über unsere Gegner anzufertigen.
Wir überlassen nichts dem Zufall. Vor dem Elferschießen stecken wir Goalie Lehmann einen Spickzettel in den Stutzen, auf dem die Gewohnheiten der gegnerischen Schützen verzeichnet sind. Das ist Klinsmanns technokratisches Credo der Humanipulation: Auch eine WM sei nichts weiter als ein zeitlich befristetes »Projekt«. Das am 9. Juli 2006 beendete Zweijahres-Projekt trug den aufreißerischen Namen Challenge 2006. Spieler sind Menschen, und Menschen kann man tunen, je jünger, um so besser. Was zählt, sei der Erfolg am Stichtag, und der sei wissenschaftlich programmierbar, also just in time machbar. Jürgen Klinsmann ist der prototypische Fußballtrainer der McKinsey-Gesellschaft: große Schnauze, relativer Erfolg und kleines Durchhaltevermögen, weil die Methode ihren Propheten erschöpft.
Versagen ist Erfolg. Klinsmann wollte Weltmeister werden. Das Ziel hat er verfehlt. Er ist sogar noch hinter die Leistung seines Vorgängers Rudi Völler zurückgefallen. Im Vergleich zur WM 2002 in fernöstlicher Fremde hat sich die deutsche Mannschaft um einen Platz verschlechtert, und das im eigenen Land, mit der Euphorie von 82 Millionen Fans im Rücken. Das soll, wie die Zeitungen schreiben, ein »sensationeller Erfolg« sein?
PS. Gibt es in dieser euphorisch aufgeladenen Zeit denn gar keine altüberkommene Genugtuung darüber, Deutscher zu sein? Oh doch! Während alle Welt alle Hebel in Bewegung setzt, um im Guinness-Theater irgendwo die Nummer Eins zu sein, freut man sich in Deutschland irrsinnig über Platz drei. Das zeugt von guten, aber leider vorgestrigen Manieren. Als guter Gastgeber ließe man gefälligst den Gästen den Vortritt, langjährigen Erbfeinden (Frankreich) und unselig Verbündeten (Italien) zumal. Chapeau, Deutschland!