Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 26. Juni 2006, Heft 13

Connecting people. Drei Tage ohne Hoffnung

von André Brie

Während der einstündigen Fahrt nach Ostjerusalem hatte ich ständig das tiefe Empfinden, das Land sei anders als bei meinen früheren Besuchen. Politische Veränderungen kann man nicht sehen, aber der eigene Blick mag von den mitgebrachten Gefühlen und Gedanken bestimmt sein. Dann fiel mir jedoch ein, daß ich noch nie im Frühling hier gewesen war, nur immer im heißen, trockenen Sommer, im Herbst oder im nahöstlichen Winter, wenn weite Teile des Landes braun und trocken daliegen. Es waren das intensive Grün, die vielen blühenden Sträucher und Bäume, das hohe frische Gras, der tiefrote Mohn, die selbst die Kalksteinberge rund um Jerusalem verwandelt haben.
Ein Treffen mit europäischen Diplomaten war aufschlußreich. Natürlich haben sie die Regierungsargumente parat. Sie sind ja auch nicht falsch: Die neue palästinensische Regierung antworte nicht auf die Forderungen der EU, Israel und die internationalen Vereinbarungen anzuerkennen und einen wirksamen Gewaltverzicht durchzusetzen. Ein französischer Diplomat meinte, es dürfe nicht alles zerstört werden, was sie hier aufgebaut haben. Aber die Atmosphäre sei schlecht, und die Partner seien verlorengegangen oder nicht mehr im Amt.
Wir diskutierten auch über die Doppelstandards der EU gegenüber der israelischen und der palästinensischen Regierung und das Fehlen ebenso klarer Forderungen der EU an die israelische Regierung. Die Antwort auf alle unsere Argumente war ein Offenbarungseid: »Gehen Sie davon aus, daß wir das alles so sehen wie Sie. Das größte Problem ist der fehlende Einfluß auf Israel. Wir sind keine Politiker, sondern Diplomaten. Kontakte zur Hamas-Regierung sind uns untersagt. Ihr Parlamentarier habt eher die Macht, die Politik zu ändern.« Meine Kollegen und ich reagieren bitter lachend.

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Nach dem Gespräch mit Mahmut Abbas, der nichts Neues gesagt hatte (und auffällig ruhig wirkte …), treffen wir vor der Muqata, dem Regierungssitz, zufällig Yassier Abbed Rabbo, den palästinensischen Initiator der Genfer Friedensinitiative, die ich vor gut zwei Jahren doch mit einiger Hoffnung begleitet hatte. Über die Hamas sagt er: »Die wartet auf den Aufstand der arabischen und islamischen Massen. Das ist ihr einziges Konzept. Aber bekommen werden wir höchstens den Aufstand hungriger, verzweifelter palästinensischer Massen.«

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Israelisch-palästinensische Kundgebung der Combatants for Peace in Anata. Die Wolken haben sich verzogen, es ist warm geworden. Der Schulhof in Anata ist für die Kundgebung gewählt worden, weil die Mauer hier in schätzungsweise acht Meter Höhe über ihn führt und direkt an das Schulgebäude anschließt. Rechts von mir gehen die Bauarbeiten an ihrer Fortführung weiter. Es mögen sich etwa vierhundert Menschen versammelt haben, Palästinenser, Israelis, die mit Bussen hergekommen sind. Muhammad Hasan Imran, der Bürgermeister, beschreibt in seiner kurzen Rede die Situation der Stadt: »Anata gehörte über hunderte Jahre zum Jerusalemer Distrikt. Nun gehört ein Teil zu Jerusalem, der andere trotz der großen Entfernung zu Ramallah. Der israelische Master Plan hat die Stadt zu einem Ghetto gemacht, das von der Mauer der Diskriminierung auf allen vier Seiten umgeben ist. Die Arbeitslosigkeit beträgt sechzig Prozent, die Familien sind getrennt, zwei der drei Schulen für den Bau der Mauer konfisziert worden. Wir rufen Sie zu gemeinsamen Anstrengungen für einen unabhängigen palästinensischen Saat mit Jerusalem als Hauptstadt und für Frieden in der Region und in der ganzen Welt auf.«
Es spricht der Israeli Naom Hayut: »Ich diente fünf Jahre in der Armee, erst als Soldat im Nachal commando, dann als Zugführer und stellvertretender Kompaniechef im Nachal Granit Bataillon. Als die gegenwärtige Intifada ausbrach, war ich auf einem Offizierslehrgang, so daß ich die meisten Kämpfe in den besetzten Gebieten als Offizier und nicht als einfacher Soldat mitmachte. Ich war überall in den besetzten Gebieten während meines Dienstes: Im Gaza-Streifen und in den Städten und Dörfern der Westbank. Täglich sicherte ich Barrikaden und Straßensperren, verhaftete gesuchte Männer, war an Kontrollposten, besetzte Wohnhäuser und leitete die Suche nach Waffen und Munition. Während der Operation ›Defensive Shield‹ war ich an den Massenverhaftungen in den Flüchtlingslagern von Jenin und Tulkarem und an der Eroberung Ramallahs beteiligt. In dieser Zeit, als es tägliche Selbstmordanschläge in Israel gab und ich meine Soldaten verwundet und getötet sah, fühlte ich mehr denn je, daß wir diesen Krieg führen mußten, um das Leben der israelischen Zivilisten zu schützen. Dieses Gefühl machte mich blind für die Tatsache, daß ich täglich gegen eine ungeschützte Zivilbevölkerung kämpfte. Im Widerspruch der Erlebnisse hörte ich aber nicht auf, über das Leben der Palästinenser nachzudenken. Heute weiß ich, daß ich jedoch aufgehört hatte, über die Palästinenser als Menschen nachzudenken, die ein Recht auf Würde hatten … Nach der Beendigung meines Militärdienstes schaute ich in den Spiegel und ich sah nicht mehr den Noam, den ich gekannt hatte, bevor ich eingezogen worden war. Ich sah ein Monster, das fähig war, jeden Mann zwischen 15 und 50 einzusperren, gleichgültig, was er gemacht hatte; ich sah eine Person, die ohne Wimpernzucken Wohnhäuser zerstören konnte. Ich, der Sohn eines Farmers, den gelehrt wurde, Felder zu schützen, war fähig die Bulldozer zu befehligen, die uralte Olivenbäume herausrissen, und gefühllos zu sein, wenn der Fellache weinte über das Eigentum, das ihm gewaltsam genommen wurde … Ich bin kein Pazifist, und ich weiß, daß es Zeiten gibt, in denen man Zwang anwenden muß, um eine Person oder ein Land zu verteidigen. Jedoch, es ist klar für mich: Wenn mein Vater verhaftet würde mitten in der Nacht nur wegen seines Alters oder seiner Adresse, würde ich dagegen aufstehen. Es ist klar für mich: Wenn meine Mutter als menschlicher Schutzschild benutzt würde, würde ich dagegen aufstehen. Wenn ich nicht zu meiner Liebsten in das nahe Dorf reisen dürfte, würde ich dagegen aufstehen. Wenn ich für Monate isoliert würde, als kollektive Bestrafung, würde ich dagegen aufstehen. Wenn mein Dorf, das neben einer Siedlung mit Schwimmbad liegt, kein Trinkwasser erhielte, würde ich dagegen aufstehen. Indem ich das sage, drücke ich das tiefe Mitgefühl mit den Palästinensern aus, die hier mit uns sitzen, obwohl eben das ihre Lebensrealität ist, und die, wie wir, sich für einen gewaltlosen Kampf gegen die Okkupation und für Koexistenz in Würde entschieden haben.«
Mitten in seiner Rede holt uns der nahöstliche Alltag in einer lächerlich-makabren Weise ein. Erst gibt es einen nicht allzu lauten, dann einen ohrenbetäubenden Knall. Eine Frau neben mir wirft sich sofort schützend auf den Beton. Die meisten anderen sind wie ich erschrocken und hilflos – es waren Kinder, die von einem Dach eine Imitationshandgranate geworfen haben.

André Brie ist Europa-Abgeordneter der Linkspartei.PDS, die Reise fand im April statt.