von Axel Fair-Schulz, Fort Erie/Kanada
Fast sieben Fuß groß war Galbraith und damit in seiner äußeren Erscheinung ebenso imposant wie in seinen Gedanken. John Taylor, seit 1945 Mitarbeiter der Nationalen Archive der USA in Washington und damit das personifizierte Gedächtnis dieser Institution, erzählte mir kürzlich, wie ihn Galbraith in den sechziger Jahren besuchte. Die Räumlichkeiten waren keineswegs niedrig – trotzdem konnte der riesenhafte Galbraith nur gebückt gehen. Allerdings, so Taylor, beeindruckte der gelehrte Ökonom noch mehr durch seinen gesunden Menschenverstand; er stand mit beiden Füßen auf der Erde. Galbraith war zeitlebens ein Gesprächspartner für Menschen aller Lager und Überzeugungen. Zu seinen Freunden gehörten Liberale, Sozialdemokraten und Reformmarxisten, aber auch Konservative wie William F. Buckley.
Der eng mit der amerikanischen Kultur- und Geistesgeschichte der vergangenen sechzig Jahre verbundene Harvard-Professor war gebürtiger Kanadier. Und obgleich Galbraith seine Heimat am Erie-See schon in den dreißiger Jahren verließ, war ihm Kanada kein bloßes biographisches Detail. Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, mit ihm zu reden. Geduldig beantwortete er meine Fragen über das US Strategic Bombing Survey am Ende des Zweiten Weltkrieges, mit dem die Alliierten ihre Bombenangriffe auf Nazideutschland zu koordinieren und auszuwerten suchten. Galbraith war der Direktor; unter seinem Kommando arbeitete auch Jürgen Kuczynski, dessen fachliche Fähigkeiten Galbraith übrigens sehr schätzte. Galbraith hatte die Bombenangriffe auf zivile Ziele als ineffektiv und moralisch fragwürdig scharf abgelehnt.
Am Ende unseres Gesprächs empfahl mir Galbraith nachdrücklichst, etwas über seine alte Heimat Kanada zu schreiben. Seine Bindung an das Land seiner Geburt war deutlich sichtbar. Trotz aller Probleme und Widersprüche symbolisiert der nördliche Nachbar der USA im besten Sinne Galbraiths linksliberale Werte. Auf solider marktwirtschaftlicher Grundlage hat sich in Kanada ein demokratischer Sozialstaat entwickelt, in dem die Reichen zwar nach wie vor reich, die Armen aber nicht bettelarm sind. In den USA hingegen leben 44 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung und 33 Millionen unter der Armutsgrenze.
Genau in diese Richtung gingen Galbraiths wissenschaftliche und publizistische Anstrengungen: Ohne je autoritären Versuchungen zu verfallen, dachte er ein Leben lang darüber nach, wie marktwirtschaftliche Effizienz mit sozialer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen ist. Mit viel Witz schrieb und debattierte er für die Vernunft einer sozial ausgewogenen und zugleich dynamischen Gesellschaft.
Galbraiths Bücher sind Legion. Am bekanntesten ist vielleicht The Affluent Society. In diesem vor fast fünf Jahrzehnten entstandenen Werk nahm der wahrhaft streitbare Gelehrte eine ökologische Kritik des amerikanischen Kapitalismus vorweg. Mode war dies damals noch keineswegs. Galbraith folgte zumeist seinen eigenen Instinkten, Prinzipien und Einsichten. Ohne Frage war dies polarisierend. Schon als junger und für die Preispolitik der Roosevelt-Regierung zuständiger Administrator ging Galbraith keinem Konflikt aus dem Weg. Schließlich wurde der Punkt erreicht, an dem die Anzahl von Galbraiths Feinden die seiner Freunde übertraf und er den Hut nehmen mußte. Ähnlich ging es ihm in der Kennedy- und auch der Johnson-Administration, wo Galbraiths linksliberale Überzeugungen seinen Einfluß begrenzten. Einige Beobachter sprachen in diesem Zusammenhang von Galbraiths Sisyphus-Schicksal. Richard Parker beschreibt in seinem Buch John Kenneth Galbraith: His Life, His Politics, His Economics (New York: Farrar, Straus and Giroux, 2005: 35 $), daß Galbraith trotzdem kein weltferner Prinzipienreiter war, sondern sehr wohl in Regierungen und Wissenschaft viel bewegte.
Von Clinton 2000 mit der begehrten Presidential Medal of Freedom ausgezeichnet, kritisierte Galbraith auch die sogenannten Clinton-Democrats, weil sie die Grenze zwischen Modernisieren und Aufgeben des Sozialstaates verwischten. Die Kritik der neoliberalen Rechten ließ nicht auf sich warten. Virginia Postrel vom Forbes Magazine polemisierte, daß sich Galbraiths Kritik am Sozial- und Demokratieabbau auf dem Niveau von Astrologie bewegen würde.
Andere Stimmen jedoch wie die von Paul Samuelson zeigen eine interessantere Perspektive auf. »Ken Galbraith … will be remembered and read when most of us Nobel laureates will be buried in footnotes down in dusty library stacks.« In der Tat ist Galbraiths moralische Vision einer sehr wohl möglichen gerechteren Gesellschaft ein bleibendes Gegengewicht zur Insularität und zum Fachidiotentum vieler Wirtschaftswissenschaftler. Galbraith starb am 29. April im Alter von 97 Jahren. Sein Leben und seine 33 Bücher bleiben Herausforderung zum Denken und Weiterdenken.
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