Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

Das Schweigen der Lämmer
(Für die Kinder von Pripjat)

von Johann Peter

Lämmern, wenn man sie schächtet,
wird die Kehle zertrennt.
Ein glatter, wie es heißt,
beinahe schmerzloser Schnitt,
dem das Blut des Opfers
in sanfter Wallung entrinnt.
Nehmen wir Boris und Irina,
17, aus einer Gegend nördlich von Kiew,
wo der Wald wieder dicht ist
hinterm Maschendrahtzaun.
Nehmen wir Gleb und Ljudmila,
Pjotr und Olga, Tatjana, Iwan,
Ewgenij und Lisa,
Natascha, Artjom,
nehmen wir diese und viele
und betrachten wir sie,
die unverbrauchten Gesichter,
wie sie offen in unsre forschenden Kameras schauen,
schweigend, den Blick voll wissendem Ernst,
bis wir verlegen Worthülsen suchen
und die Kamera
samt unsrem Forscherblick senken,
dabei die Halspartie streifen,
wo die Narbe sich hinzieht,
geschwungen und rötlich,
daß man sie fast für Modeschmuck hält,
ein Lederband etwa,
eine Talisman-Kette,
wie man sie trägt,
mit 17, mit 18,
im Sommer, zum Beispiel,
träumend am Strand.
Die Schilddrüse,
ein bräunlichrotes Organ,
dem Sitz der Stimme benachbart,
erzeugt Wachstumshormone
und saugt die Strahlung auf wie ein Schwamm.
Jod, heißt es,
neutralisiert.
Man soll es vorbeugend nehmen.
Die stillen Gesichter.
Dieser Blick voll wissendem Ernst.
So klaglos, daß er nichts
als Anklage ist.
Irina und Boris,
Gleb und Ljudmila,
Pjotr und Olga,
Tatjana, Iwan,
Ewgenij und Lisa,
Natascha, Artjom,
Artjom? Nein, Artjom
starb schon gestern.
Mit 17.
Mit 18.
Mit 19,
wer weiß.
Lämmern, wenn man sie schächtet,
wird die Kehle zertrennt.
Ein glatter, wie es heißt,
schmerzloser Schnitt,
an dem sie verbluten,
lautlos
und ohne Betäubung.