von Axel Fair-Schulz, Fort Erie/Kanada
Es ist nicht nur unter Linken ein offenes Geheimnis, daß Hans-Werner Sinn gelegentlich mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß steht. Als Präsident des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und als Berater im Dunstkreis deutscher Merkelei zeichnet sich der Professor durch eine manchmal an das Niveau verflossener SED-Parteiideologen erinnernde Polemik aus. Mit Büchern wie Ist Deutschland noch zu retten? hat sich Sinn einen Ehrenplatz in den Annalen derer erschrieben, die wissenschaftliche Analyse auf dem Altar vordergründiger Interessenpolitik zu opfern bereit sind. Man muß sich nur einige seiner Verlautbarungen auf der Zunge zergehen lassen: »Die Zeit der Ausbeutung der Proletarier durch die Kapitalisten ist lange vorbei, und die Zeit, während derer die Kartellgewerkschaften die Unternehmen in heimlicher Komplizenschaft mit dem Sozialstaat ausbeuten konnten, nähert sich ebenfalls dem Ende.«
Als dogmatischer Anhänger von Reaganomics und Supply-Side Economics predigt Sinn mit einem unkritischen Enthusiasmus einseitig angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, verbunden mit Lohnsenkungen von zehn bis 15 Prozent als Allheilmittel. Dadurch soll die Arbeitslosigkeit weitgehend beseitigt werden. Als Anwort auf den angeblich so überzogenen deutschen Sozialstaat bietet er unter anderem das US-amerikanische Modell an. Nun kann man mit Sicherheit sehr viel von Amerika lernen. Als eine der dynamischsten und vielfältigsten Gesellschaften der Welt ist es eine bedenkenswerte Alternative zum partiell viel unflexibleren und in Ethnozentrismus befangenen Europa. Doch wirkliches Lernen kann nie schematisches Übernehmen sein. Gerade bei dem hochkomplexen und in sich sehr differenzierten amerikanischen Modell sollte man sich um ein nuanciertes Urteil bemühen.
Herrn Sinn steht aber nicht der Sinn danach. Seine ermüdenden Hinweise auf den Rückgang US-amerikanischer Arbeitslosigkeit von fast zehn Prozent 1982 auf weniger als fünf Prozent heute reduziert ein vielschichtiges Phänomen auf gar zu einfache Begriffe. Daß Lohnarbeit nämlich zunehmend kein Ausweg aus der wirklichen oder drohenden Verarmung ist, wird seit geraumer Zeit in den USA diskutiert. Und dies nicht nur unter Linken. Da ist beispielsweise Barbara Ehrenreichs Bait and Switch: The (Futile) Pursuit of the American Dream.
Bereits in ihrem 2001 erschienenen Bestseller Nickel and Dimed: On (Not) Getting By in America beschrieb Ehrenreich an Hand sehr konkreter Beispiele, wie die unteren Einkommensschichten, die working poor, sich mit zwei, drei oder noch mehr Vollzeitstellen gleichzeitig abschuften und dennoch beträchtlich unterhalb der Armutsgrenze vegetieren. In ihrem neuen Buch nun geht Ehrenreich auf die Situation derjenigen ein, die auf der mittleren Managementstufe Arbeit suchen oder diese behalten möchten. Die Resultate ihrer Fallstudien sind bedrückend. Anders als in Nickel and Dimed, wo Ehrenreich unter fingiertem Namen mal als Kellnerin und dann wieder als Verkäuferin bei Wal-Mart die Lebensumstände der working poor am eigenen Leib erkundete, sucht sie nun eine Stelle im mittleren Einkommensbereich. Wiederum ohne ihre wahre Identität preiszugeben, aber mit den wichtigsten Elementen ihrer sehr erfolgreichen Karriere als freischaffende Journalistin in ihren Bewerbungsunterlagen versuchte sie, Anstellung in public relations departments zahlreicher Unternehmen zu finden. Zusätzlich machte sie sich mit den neuesten Strategien fit für den sozialstaatlich entflochtenen und daher so dynamischen Arbeitsmarkt. Barbara Ehrenreich nahm an networking seminars teil, hat ein image makeover, geht in ein job boot camp und bezahlt gar einen persönlichen job coach. Resultat: nicht einmal eine Antwort auf die unzähligen Bewerbungen über viele Monate hinweg. Schließlich doch ein Stellenangebot, wenn auch beträchtlich unter ihren minimalen Gehaltserwartungen.
Ehrenreich ist nicht allein in Amerika mit ihren exzellent recherchierten Büchern, welche die Milchmädchenrechnungen von Sinn und Co. blamieren. Eine andere wichtige Stimme ist die von Kevin Phillips. Als enger Parteigänger von Richard Nixon und als Vordenker der konservativen Republikaner ist Phillips kaum zu verdächtigen, ein Linker zu sein. Sein The Emerging Republican Majority wurde von Newsweek als eine Art politische Bibel der Nixon-Ära gepriesen. Doch trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, seiner moderat-konservativen Überzeugungen wurde Philips in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend skeptisch gegenüber marktradikalen Reformern. In seinen diversen und immer sehr lesenswerten Büchern, wie Boiling Point: Democrats, Republicans, and the Decline of Middle-Class Prosperity, schreibt er sich die Enttäuschung über eine marktradikale Wirtschaftspolitik von der Seele, die nicht nur den unteren Einkommensschichten, sondern zunehmend auch zahllose Mittelklässler mit Verarmung bedroht. Seit den siebziger Jahren sind deren Sparanlagen und Immobilien, ihr für den Lebensunterhalt zur Verfügung stehendes Einkommen sowie ihre Rentensicherungen im Niedergang. Trotz oder wegen des expandierenden Niedriglohnsektors? Sollten Sinn und Co. nicht einmal darüber reflektieren, anstatt so oberflächlich wie bisher zu argumentieren?
Daß es sich bei dem Thema Niedriglohnsektor und Verarmung breiter Schichten bis in die Mittelklasse hinein nicht nur um ein wirtschaftspolitisches Problem handelt, macht ein anderes Buch von Philips deutlich. Wealth and Democracy: A Political History of the American Rich analysiert, wie die extreme Konzentration von Macht und Einfluß in den Handen der Reichen und Superreichen zu unerträglichen Polarisierungen in der amerikanischen Gesellschaft führte und warum Kleptomanie und Korruption im Namen des freien Marktes autoritäre Strukturen und Mentalitäten fördern. Wenn Hans-Werner Sinn schon darüber nicht nachdenkt, sollten es wenigstens wir tun.
Barbara Ehrenreich: Bait and Switch: The (Futile) Pursuit of the American Dream, Metropolitan Books 2005, 256 Seiten, 24 Dollar; deutsche Ausgabe: Qualifiziert und arbeitslos, Antje Kunstmann 2006 München, 19,90 Euro
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