von Marina Mai
Vietnams Führung wird im Vorfeld des 10. Parteitages der Kommunistischen Partei, der am 18. April beginnt, von heftigen Flügelkämpfen gelähmt. Prominentester Vertreter der Reformer ist der ehemalige Premierminister Vo Van Kiet. Er rief in Artikeln auf den staatlichen Internetportalen Vietnamnet und Thanh Nien online sowie in der Wirtschaftszeitschrift Dai Tu seine Partei zu radikalen Reformen und einer »mutigen Berichtigung der Fehler der Vergangenheit« auf. Sonst werde Vietnam wirtschaftlich nicht an die Industriestaaten und China anknüpfen können.
Das Land brauche Rechtssicherheit für Investoren statt Mißtrauen und Behördenwillkür, es müsse endlich die weit verbreitete Korruption ernsthaft bekämpft werden. Der Altpolitiker, der 1986 zu den Architekten der Erneuerungspolitik »Doi Moi« (der vietnamesischen Variante der Perestrojka) gehörte, oft mit Michail Gorbatschow verglichen wird und von 1991 bis 1997 Regierungschef war, fordert eine nationale Umweltpolitik, um die sich häufenden Naturkatastrophen einzudämmen, die gegenwärtig zu einer Mißernte führen.
Der Expremier kritisierte auch das Verfahren zur Wahl der Parteitagsdelegierten als »undemokratisch«. Die Parteibasis habe sich daran nicht beteiligt. »Dunkle Mächte« um den Altpräsidenten und Reformgegner Le Duc Anh hätten noch immer die Macht inne. Die Wahl der Parteitagsdelegierten ist ein Thema, das die Gemüter heftig erhitzt. Es gibt seit Monaten Gerüchte, nach denen ein Mandat, das in dem Einparteienstaat viel Einfluß und damit den Zugang zu Geldquellen verspricht, käuflich sein soll.
Bevor Vo Van Kiet an die Öffentlichkeit trat, hatte der Endsiebziger Eingaben an das Zentralkomitee gerichtet. Dazu hatte die Parteiführung alle Genossen ermutigt. Erstmals sollte das Parteistatut im Vorfeld eines Parteitages öffentlich diskutiert werden. Doch der Statutentwurf fasse lediglich praktisch bereits vollzogene Veränderungen in Schriftform, kritisiert Vo Van Kiet. Beispielsweise soll sich die Partei nicht mehr allein aus der Arbeiterklasse rekrutieren, sondern auch Unternehmern eine Mitgliedschaft gestatten. In der Praxis ist das längst der Fall, denn die Grenze zwischen den Direktoren staatlicher Betriebe und den Inhabern und Teilhabern der privatisierten Firmen ist fließend.
Daß Vo Van Kiet seine Forderungen in den staatlich kontrollierten Medien veröffentlichen darf, liegt daran, daß er aufgrund seines Alters und seiner Verdienste Narrenfreiheit genießt. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Vor einem Jahr hatten mehrere ZK-Mitglieder sowie hochrangige Militärs und Universitätsprofessoren eine demokratische Kontrolle über den mächtigen Geheimdienst Cuc Hai sowie staatsanwaltliche Ermittlungen gefordert. Sie hatten aufgedeckt, daß der ehemalige Staatschef Le Duc Anh mit Hilfe erfundener Geheimdienstdossiers politische Gegner ausgeschaltet haben soll. Damals mußten sich selbst so prominente Vietnamesen wie der legendäre Generalleutnant Vo Nguyen Giap, der die Schlacht bei Dinh Binh Phu 1954 gegen Frankreich siegreich geführt hatte, noch der Exilpresse bedienen. Unterdessen hat aber offensichtlich der Druck in Vietnam so zugenommen, daß sich kritische Stimmen auch im Land selbst nicht mehr verschweigen lassen.
Heftige Querelen hatten die Parteiführung nach den Eingaben von Vo Van Kiet im vergangenen Herbst handlungsunfähig gemacht. Der ursprünglich für Januar angesetzte Parteitag wurde zweimal verschoben, weil man sich nicht über die nötigen Personalentscheidungen einigen konnte. Die Stimmung im Land ist angespannt. Anfang Februar streikten 60000 Vietnamesen in zwei südlichen Provinzen für eine Erhöhung des Mindestlohnes in ausländischen Unternehmen. Das waren die größten Massenproteste seit Kriegsende 1975. Die Regierung, die in amerikanischen, malaysischen oder deutschen Unternehmen die Löhne mit den Firmen aushandelt, lenkte ein: Der Mindestlohn wurde je nach Provinz auf 45 beziehungsweise 55 US-Dollar erhöht. Davon kann man nur leben, wenn andere Familienmitglieder Erwerbsquellen haben. Adressat der Arbeitsniederlegungen waren in erster Linie nicht die ausländischen Investoren, sondern vietnamesische Behörden. Denn es ist ein offenes Geheimnis, daß deren Mitarbeiter von den Firmen deutlich höhere Schmiergelder erhalten als die Beschäftigten Lohn.
Parteitage finden in einem festen Fünfjahresrhythmus statt. Auf ihnen werden die wichtigsten inhaltlichen und personellen Weichen gestellt. Die Verschiebung eines Parteitages ist ein Novum. Auf einer Plenarsitzung im Januar war es dem Zentralkomitee nicht gelungen, sich über die aus biologischen Gründen angesagten Personalentscheidungen zu verständigen, die es dem Parteitag unterbreiten wollte. Die Vertreter einer Generation, die am Befreiungskampf gegen Franzosen und Amerikaner in führenden Positionen teilnahm, sollen und wollen sich aus der Arbeit zurückziehen. Das betrifft den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten sowie den Innen-, Außen- und Verteidigungsminister.
Den avisierten Nachfolgern fehlt die Erfahrung des Befreiungskampfes und damit ein Stück Authentizität. Die Spannbreite zwischen Reformern und Dogmatikern ist riesig. Der als möglicher neuer Staatspräsident gehandelte Nguyen Khoa Dien hat eine Universität in der UdSSR absolviert und sich in Vietnam als Architekt einer scharfen Zensur in Medien und Internet profiliert. Sein Gegenpol Le Dang Doanh, DDR-Absolvent und Wirtschaftsberater mehrerer Premierminister, fordert in Zeitungsartikeln die führende Rolle der Kommunistischen Partei aus der Verfassung zu streichen. Anders als der jetzt rebellierende Vo Van Kiet, der als Premier einst sein Chef war, will er das vietnamesische System nicht nur den modernen Gegebenheiten anpassen. Er stellt das Nebeneinander von Marktwirtschaft und bürokratisch-sozialistischem Staatssystem generell in Frage. Die Partei soll sich, so fordert er, aus der Wirtschaft heraushalten, weil das der Korruption Tür und Tor öffne.
Ob auch Parteichef Nong Duc Manh, der erst seit fünf Jahren im Amt ist, gehen muß, wird wohl hinter verschlossenen Türen heftig diskutiert. Manh war gewählt worden, weil er keinem der streitenden Flügel angehörte und als integrationsfähig galt. Doch die Zeit, in der man glaubte, die divergierenden Flügel einen zu können, ist möglicherweise in Vietnam vorbei.
Rechtzeitig vor dem Parteitag haben die Behörden Sitzblockaden von Demonstranten vor dem Sitz des Zentralkomitees, vor Privatwohnungen von Ministern sowie im zentral gelegenen Mai-Xuan-Thuong-Park aufgelöst. Die rund vierzig wechselnden Demonstranten, die zumeist aus Südvietnam stammten und seit dem Herbst fast täglich in Hanoi protestierten, wurden von ihren Heimatbehörden »in Obhut genommen«, wie es hieß. Unter ihnen waren Bauern, die für Straßenbauarbeiten von ihren Grundstücken vertrieben wurden und eine Entschädigung fordern, sowie Frauen, die vor Gerichten gegen Provinzfunktionäre verloren hatten und sich zu unrecht verurteilt fühlen. Prominenteste Demonstrantin war die Ex-Ehefrau des Staatspräsidenten Tran Duc Luong. Die mittellose Frau, die sich mit den Wortführern der enteigneten Bauern verbündet hat, forderte für sich und ihre Tochter Unterhalt. Das Staatsoberhaupt hat bisher weder bestätigt noch dementiert, daß die Dame seine Exgattin ist.
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