Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. April 2006, Heft 8

Krankes Rußland

von Marat Abrarov

Der Alkoholismus, das alte Übel Rußlands, wird immer mehr zu einem Problem. Bei der letzten Volkszählung wurde klar: Die Männer im arbeitsfähigen Alter sterben in einem Maße (Lebenserwartung: 58,8 Jahre), daß heute bereits auf tausend Männer 1149 Frauen kommen. Neben den durch exzessiven Alkoholkonsum hervorgerufenen Erkrankungen zählen vor allem Unfälle, die in betrunkenem Zustand verursacht werden, sowie Totschlagsdelikte zu den Ursachen. 21,1 Prozent aller Verbrechen werden in Rußland in alkoholisiertem Zustand begangen, bei den Gewaltverbrechen sind es knapp vierzig Prozent. Bei Unfällen auf den Straßen wurden 2003 in Rußland mehr als zwanzigtausend (!) Menschen getötet. Alkohol ist – obgleich die Null-Promille-Regelung gilt – die häufigste Unfallursache. Jedes dritte Kind hält seine Eltern für schwere Alkoholiker, fast jedes fünfte Kind hat das Elternhaus verlassen, weil es zu Hause mißhandelt wurde, wobei russische Soziologen schätzen, daß drei Viertel aller Frauen des Landes, also die erdrückende Mehrheit, sogenannter häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Achtzehn Prozent von ihnen werden regelmäßig verprügelt.
Wen wundert es da, daß Rußland bei den »Abtreibungen« den zweiten Platz in der Welt einnimmt? Bei der Zahl der Selbstmorde liegt das Land neuesten Angaben zufolge auf Platz zwei in Europa hinter Litauen. Im zurückliegenden Jahrzehnt haben sich in Rußland rund fünfhunderttausend Menschen das Leben genommen. Das »Höchstlimit«, das die Welthandelsorganisation als »zulässig« betrachtet, sind zwanzig Suizidfälle pro hunderttausend Einwohner. In Rußland ist diese Zahl mit 39 fast doppelt so hoch. »Die totalen Erschütterungen der Menschen in Folge der Zerstörung des Landes und der gewohnten Lebensweise wurden ständig durch politische Nervenbelastung, plötzliche Verarmung und zunehmende Kriminalität verstärkt«, so Wladimir Woizech, Leiter der Abteilung Suizidologie des Psychiatrischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften. »1994 erreichte die Suizid-Kurve mit 65000 Selbstmorden ihren Höhepunkt«. Die Zahl hat sich seitdem auf fünfzigtausend Selbstmorde pro Jahr eingependelt.
Amtliche Statistiken geben als wichtigste Todesursachen Herzkrankheiten – ungefähr sechzig Prozent aller Todesfälle – und Unfälle an (die Hälfte davon unter Alkohol), gefolgt von Krebs, Drogenmißbrauch und Selbstmord, wobei die Rate der Krebs- und Herzkrankheiten in Rußland viel höher ist als in anderen entwickelten Ländern.
Hinzu kommt, daß die medizinische Versorgung unzureichend, weil teuer und damit für einen Großteil der Bevölkerung nach wie vor gar nicht bezahlbar ist. So hat sich die Zahl der Tuberkulosefälle in den vergangenen Jahren auf rund zwei Millionen Fälle im Jahr erhöht, auch gegen die Verbreitung von AIDS – nach wie vor in der russischen Öffentlichkeit ein kaum diskutiertes Thema – wird fast nichts unternommen. Amtliche Zahlen sprechen 220000 HIV-Fällen, wobei viele Experten davon ausgehen, daß es wahrscheinlich fünfmal so viele sind, die meisten davon Betroffenen sind zwischen 15 bis 25 Jahre alt.
Unbestritten hat Wladimir Putin vieles in Rußland verändert und jedenfalls insoweit einen Fortschritt erreicht, als daß man die zuvor insgeheim abgesprochene Entwicklungsfähigkeit des Riesenreiches heute nicht mehr per se anzweifelt. Die Reizworte »Diktatur des Gesetzes« und »starker Staat« allerdings, mit denen Putin im Handumdrehen das Vertrauen seiner Bürger erobert hatte, sind inzwischen verhallt: Von seinen vier ordnungspolitischen Zielen – Sicherheit und Ordnung, Anti-Korruptionskampf, Rechtssicherheit und Stärkung der Exekutive – ist nur letzteres umgesetzt worden. Die Mordrate in Rußland spricht eine deutliche Sprache: Starben 1990 sechzehntausend Menschen eines gewaltsamen Todes, waren es im Jahre 2003 mehr als dreißigtausend. Nach Schätzungen des Sicherheitsausschusses der Duma fallen jährlich sogar etwa einhunderttausend Menschen Mord und Totschlag zum Opfer. Und: Immer seltener würden die Täter die Polizei fürchten, weil sie davon ausgingen, durch Bestechung eine Strafe abwenden zu können, so der Vorsitzende des Parlamentsausschusses Gurow.
Auch in der Politik ist »die Mafia«, also kriminelles Verhalten, immer noch ein wichtiger Faktor: In Moskau wurde mitten auf dem Arbat, der berühmten Fußgängerzone, vor laufenden Fernsehkameras der Gouverneur von Magadan erschossen. Hintergrund sollen Goldgeschäfte sein.
Ziel eines Anschlags war auch die regierungskritische Reporterin Elena Tregubowa; Anfang Februar dieses Jahres explodierte vor ihrer Wohnung in Moskau eine Bombe. Erst kurz zuvor hatte sie das Buch Geschichten eines Kreml-Gräbers herausgebracht, das sofort zu einem Bestseller geworden war. Darin erzählt die Autorin Details aus ihrer mehrjährigen Tätigkeit als Kreml-Korrespondentin, unter anderem, wie sie der heutige russische Präsident im Jahre 1988 für den KGB anwerben wollte. Es hatte mehrere Versuche gegeben, die Veröffentlichung des Buches zu verhindern. Kurz vor der Veröffentlichung verlor die Journalistin ihre Stelle bei einer Tageszeitung.
Auftragsmorde sind seit den neunziger Jahren an der Tagesordnung, Rußland – das reiche Land mit armer Bevölkerung – ist nach wie vor korrupt und die Kriminalitätsrate demzufolge erschreckend hoch, das hat sich auch mit Putin nicht geändert. Der brach zwar mit dem Oligarchen und von der Zeitschrift Forbes als »Paten von Rußland« bezeichneten Boris Berezowski, der nun im »freiwilligen Exil« in London lebt, doch die russische Tradition, daß eine Handvoll Leute über die schier unermeßlichen Ressourcen des ganzen Landes verfügen, besteht fort.
Das hemmt aber nicht nur eine gesunde Wirtschaftsentwicklung, sondern bedroht den russischen Staat letztlich sogar in seiner Existenz, denn die Tatsache, daß der Krieg in Tschetschenien für Militärs wie für bestimmte Cliquen in Moskau mittlerweile nichts anderes als ein riesiges Geschäft ist, ist nur allzu offensichtlich. Die Auswirkungen und Ausläufer dieser fast schon institutionalisierten organisierten Kriminalität Rußlands sind in aller Welt zu spüren: Nach Angaben der Madrider Zeitung El Mundo liefern russische Gangster von Teneriffa aus Waffen in afrikanische Bürgerkriegsstaaten. Erkenntnissen der spanischen Polizei zufolge, haben sich im Süden von Teneriffa mehr als sechzig russische Scheinfirmen niedergelassen.