Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 3. April 2006, Heft 7

Das große Spiel

von Uri Avnery, Tel Aviv

Wenn man die Politik eines Landes verstehen will, dann sollte man sich die Landkarte ansehen!« riet Napoleon. Damit wollte er sagen: Regime kommen und gehen, Herrscher steigen und fallen, Ideologien blühen und vergehen – aber die Geographie bleibt bestehen. Es ist die Geographie, die die grundlegenden Interessen eines jeden Staates entscheidet. Wladimir Putin, Erbe der Zaren und Kommissare, schaute auf die Landkarte. Sah sie genau an, nahm den Telefonhörer in die Hand und lud die Hamas-Führer nach Moskau ein.
Vor einhundert Jahren war die Region zwischen Indien und der Türkei ein Schlachtfeld zwischen Rußland und der wichtigsten westlichen Macht – dem Britischen Empire. Abenteurer, Spione, Diplomaten und Intriganten aller Art durchstreiften das Gebiet. Dieser Wettstreit wurde als Das große Spiel bekannt. Mit der Zeit wechselten die Akteure. Die Bolschewisten nahmen den Platz der Zaren ein, das amerikanische Empire folgte dem britischen. Aber das große Spiel ging weiter.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, schien es, als würde das Spiel zu Ende kommen. Der russische Einfluß verschwand aus der Region. Das Sowjetreich löste sich auf, und was übrig blieb, war zu schwach, zu arm, um sich an diesem Spiel zu beteiligen. Es hatte keine Jetons mehr.
Und nun veränderte Putin alles mit einem Schlag. Die Hamas einzuladen, war ein genialer Schachzug: Er kostete gar nichts und brachte Rußland wieder zurück auf die Karte des Nahen Ostens. Während die ganze Welt vom Hamas-Sieg noch verdutzt und verwirrt war, tat Putin den ersten Zug in einem neuen Spiel.
Auf diese Weise nützte der neue Zar aller Russen die Schwäche seiner Rivalen. Präsident Bush hat sich selbst in eine trostlose Situation gebracht. Als alle anderen Vorwände für seine blutigen irakischen Abenteuer sich in dünne Luft auflösten, hißte er eine neue Flagge: Demokratie für den Nahen Osten. Er drängte den Palästinensern neue Wahlen auf. In diesen Wahlen, den demokratischsten, die man sich vorstellen kann, waren die Sieger die Hamas. Was sollte man nun tun? Erklären, demokratische Wahlen seien nur gut, wenn sie das Ergebnis liefern, das wir wünschen? Die Palästinensische Behörde boykottieren, die nun die »Zweite Demokratie im Nahen Osten« ist ? Die Palästinenser verhungern lassen, bis sie die »richtige« Führung gewählt haben?
Bush könnte natürlich die gewählte Hamas-Regierung anerkennen. Aber wie könnte er das tun? Schließlich haben die US die Hamas auf ihre Liste der Terrororganisationen gesetzt, nicht nur ihren militärischen Flügel, sondern die ganze Bewegung, einschließlich der Kindergärten und Moscheen. Nun sind sie gefangen im »Kampf der Kulturen«. Nichts kann getan werden. Amerika ist wie ein Schachspieler, der sich in der Patt-Position befindet – unfähig, noch einen Zug zu machen.
Europa befindet sich in einer ähnlichen Situation. Wie ein psychisch Kranker in einer Zwangsjacke kann er seine Arme nicht bewegen. Es zog sich selbst diese Jacke an. Unter amerikanischem und israelischem Druck setzte es die Hamas auf die Terroristenliste und verurteilte sich selbst zu völliger Unfähigkeit in der neuen Situation.
Auch die Palästinenser sind ziemlich verwirrt. Bei diesen Wahlen haben sie sich selbst überrascht, sogar die Hamas. Innerhalb der Fatah gibt es sich widersprechende Ansichten, was nun zu tun sei. Die Vernünftigen im palästinensischen Volk verlangen klar eine breite Koalition, die alle Parteien einschließt, um die Krise zu überwinden und einen Boykott der Palästinensischen Behörde durch die Welt abzuwenden. Aber der Parteiegoismus der Fatah fordert etwas anderes: Laßt uns die Hamas zwingen, alleine zu regieren. Sie wird sich das Genick brechen, die Welt wird sie boykottieren. Nach ein oder zwei Jahren wird die palästinensische Öffentlichkeit Fatah an die Macht zurückholen.
Das ist Realpolitik, aber gefährlich. Während der ein oder zwei Jahre wird die israelische Regierung die Siedlungen erweitern, noch mehr Mauerabschnitte bauen, die Grenzen willkürlich festlegen, das Jordantal annektieren – nur der Himmel ist die Grenze. Die Reaktion der palästinensischen Öffentlichkeit wird möglicherweise völlig anders ausfallen, als die Fatah-Leute glauben.
Der Hamas-Führung ist sich voll bewußt, daß die Wahlen vor allem eine Protestwahl waren – eher gegen die Fatah als für die Hamas. Nun muß Hamas das Herz des palästinensischen Volkes gewinnen – und das Volk wünscht sich ein Ende der Besatzung und endlich Frieden.
Die Hamas will nicht, daß die Welt die Palästinensische Behörde ächtet und die Bevölkerung hungern läßt. Aber sie kann am Morgen des Sieges ihre Haut nicht plötzlich wechseln. Was würden die Palästinenser sagen, wenn sie auf einmal erklärt, sie sei bereit, Israels Existenzrecht, anzuerkennen, sich zu entwaffnen und ihre Charta für null und nichtig zu erklären? Das würde bedeuten, sie hätte ihre Seele dem Teufel verkauft, um die Bequemlichkeiten der Macht zu genießen. Das hieße, sie wäre so korrupt wie die Fatah.
Wenn Israel und Amerika die Hamas auf den Weg des Friedens führen wollten, würden sie ihr den Weg zum gewünschten Ziel erleichtern. Sie würden Wege finden, um das Geld, das den Palästinensern gehört, auch den Palästinensern zukommen zu lassen. Sie könnten mit einer Ankündigung zufrieden sein, daß sich die neue Regierung auf das Oslo-Abkommen gründe (was die Anerkennung Israels einschließt), ohne daß die Hamas ihr Gesicht verlöre. Sie könnten mit dem Waffenstillstand für eine Übergangsperiode einverstanden sein und allen gewalttätigen Aktionen beider Seiten ein Ende bereiten. Die Hamas könnte entwaffnet werden, indem man ihre Kämpfer in die offiziellen Sicherheitskräfte einbezieht. Und natürlich und am wichtigsten: Gefangene könnten entlassen werden.
Aber die gegenwärtige israelische Regierung zeigt kein Interesse, es Hamas leicht zu machen. Und wenn die israelische Regierung nicht daran interessiert ist, warum sollte ein amerikanischer Politiker etwas anderes sagen, wenn er nicht Selbstmord begehen will.
In Israel gab der Sieg der Hamas keinen Anlaß zu Sorgen und Klagen. Im Gegenteil. Die israelischen Führer konnten sich nur schwer zurückhalten, auf der Straße zu tanzen. Endlich ist vollkommen klar, daß es »niemanden gibt, mit dem man verhandeln kann«. Wenn Yassir Arafat kein Partner war und Mahmoud Abbas auch nicht, so ist die Hamas die Mutter aller Nicht-Partner. Keiner kann uns tadeln, wenn wir weiter »gezielt töten«, die palästinensische Wirtschaft zerstören, Mauern bauen, das Gebiet der Westbank zerteilen, den Jordangraben abschneiden und im Grunde alles tun, was uns gefällt. Und wenn – mit Gottes Hilfe – der palästinensische Terror wieder anfängt, können wir jedem erwidern: »Das haben wir euch doch schon immer gesagt!«

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion geringfügig gekürzt.