von Wolfgang Triebel
Der eine starb vor fünfzig Jahren, der andere befindet sich im 85. Lebensjahr. Beide ergänzten sich auf besondere Art. Der eine hat mit seinen Dichtungen in den Literatur- und Theaterbetrieb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie in ein Wespennest gestochen. Die Obrigkeiten in Bayern mochten ihn vor 1933 und auch nach 1945 nicht, darum ging er in das DDR-Berlin. Der andere Bayer, 23 Jahre jünger, hat sein politisches und kulturell-ästhetisches Denken und als erster auch seinen akademischen Weg mit dem Werk des älteren Bayern verbunden. Der ältere Berliner Bayer dürfte als Bertolt Brecht erkannt sein.
Der jüngere Bayer, Ernst Schumacher, war ebenfalls den Herrschern in seiner Geburtsheimat ein Dorn im Auge und lebt seit den sechziger Jahren im Berlin der DDR. Just vor seinem 85. Geburtstag veröffentlicht er persönliche Erinnerungen an den älteren Bayern unter dem »vereinnahmenden« Titel Mein Brecht. Schumacher erklärt das besitzanzeigende Fürwort im Titel als »Ausdruck meiner subjektiven Annäherung an Persönlichkeit und Werk Brechts, die ich über Jahrzehnte ›objektiviert‹ hatte«. Dieser subjektive Annäherungsprozeß an Persönlichkeit und Werk Brechts ist der Gegenstand von Mein Brecht, spannend und witzig geschrieben, aufschlußreich über das menschliche Umfeld des Dichters, in das der junge Schumacher einbezogen und von Brecht »in Kameradschaft« geachtet ist.
Der Handlungsrahmen des Buches setzt 1949 ein, als Schumacher Brecht in Berlin aufsuchte und ihn um Unterstützung bei seiner Doktorarbeit bat. Es begann eine sicher einmalige Art der Zusammenarbeit. Im September 1953 verteidigte Schumacher seine Dissertation bei Hans Mayer und Ernst Bloch in Leipzig, deren Universität gerade den Namen Karl-Marx-Universität erhalten hatte. Ein Jahr vor Brechts Tod, 1955, erschien Schumachers Untersuchung über Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933 mit fast 600 Seiten. Mit dem Tod Brechts endet Schumacher seine Erinnerungen, nicht ohne Nachwort, überschrieben: Ein Gespenst geht um in der Welt. Seinen Nachruf auf Brecht 1956 hatte er betitelt: Er wird bleiben. Sein Erinnerungsbuch fünfzig Jahre später schließt ebenfalls mit optimistischem Ausblick: »Aus seiner [Brechts – W. T.] politisch fundierten, auf Kunstmachen angewandten Intellektualität lassen sich auf alle Fälle dialektische Methoden ableiten, um auch nach dem Epochenwechsel eingreifendes Denken zu ermöglichen. Dabei kommt es nicht auf den Buchstaben, sondern den Geist der von Brecht angewandten Dialektik an. An dieser Stelle höre ich Brecht selbst, wie er … uns Nachgeborenen und noch Lebenden zuruft: ›Ja, ihr miaßet tatsächli mea vo vorne anfange, abr des soll eich it entmutigen‹.«
Als Schreibender kommt Schumacher von der politischen Journalistik und Publizistik, denen er (entgegen seiner Meinung auf Seite 19) aus meiner Sicht bis heute meisterlich treu geblieben ist. Als zielgerichtet Denkender, der aktiv in gesellschaftliche wie kulturpolitische Vorgänge eingreift, schöpft er aus dem dialektischen Marxismus, von dem er zuerst über Brecht erfuhr, bevor er bei Marx, Engels oder Lenin nachlas. Als Theaterkritiker analysiert er – noch immer – Darstellungskunst wie Zuschauerkunst und fragt immer wieder, ob Theater Bewußtsein bilden, beeinflussen, umkrempeln kann. Als Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin vermittelte er über zwanzig Jahre bis zur Emeritierung 1987 mehreren Generationen Werk und Denken Brechts. Und heute, weltweit Nestor der Brechtforschung und in Deutschland der Theaterwissenschaft, demonstriert er in Mein Brecht die nachhaltige Wirkung dieses aufmüpfigen Dichters auf sein eigenes Leben und Schaffen als ebenfalls aufmüpfigen jungen Literaten und Theaterbegeisterten.
Mein Brecht endet zeitpolitisch mit der 28. ZK-Tagung der SED Ende Juli 1956 zur Auswertung des XX. Parteitags der KPdSU. Bertolt Brecht starb am 14. August. Am Vormittag des 17. August wurde er beigesetzt. Zeitgleich verkündete in Karlsruhe das Bundesverfassungsgericht das von Adenauer schon 1951 gewollte Verbot der KPD. Während auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte Hunderte dem toten Dichter die letzte Ehre erwiesen, stürmten Polizisten in westdeutschen Städten die Büros der KPD – elf Jahre nach Kriegsende wie 23 Jahre zuvor schon einmal. Was 1956 viele sagten, gilt auch heute noch oder wieder: Brechts literarisches Erbe und auf Marx und Engels zurückzuführende kommunistische Ideen einer menschlicheren Gesellschaft bleiben so lange aktuell, wie die Welt so ist, wie sie ist. Brechts Dichtungen und Marxens Ideen gehören zusammen. Ernst Schumacher ist seit fast sechzig Jahren Sachwalter dieser speziellen Symbiose aus Kunst und Politik im Schaffen Brechts. Dank sei ihm gesagt für »seinen« Brecht, damit er unser bleibe.
Ernst Schumacher: Mein Brecht. Erinnerungen 1943 bis 1956, Henschel Verlag Berlin, 559 Seiten, 19,90 Euro
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