Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. März 2006, Heft 6

Der Fluß

von Mateusz J. Hartwich

Was kann uns ein Berliner Journalist über die Oder erzählen, was wir nicht ohnehin schon wüßten? Wieso schreibt Uwe Rada sechzig Jahre nach dem Krieg, der diesen mitteleuropäischen Strom zum Synonym der kältesten Grenze des Kalten Krieges werden ließ, eine Oder-Biographie? Die einzig mögliche Antwort nach der Lektüre kann nur – vielleicht etwas hochgestochen – lauten: um dem Fluß seinen (neuen) Platz im vereinigten Europa zurückzugeben.
»Die Oder hat bis vor kurzem eine periphere Existenz geführt: als Grenzfluß im äußersten Osten Deutschlands, als Grenzfluß im äußersten Westen Polens. Das Jahrhunderthochwasser 1997, noch mehr aber die gänzliche Veränderung der politischen und geographischen Konstellation seit 1989 haben die Oder für einen Augenblick wenigstens ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt. Mit dem Beitritt Polens und Tschechiens zur Europäischen Union 2004 ist die Oderregion wieder zu einer Landschaft im Zentrum Europas geworden«, schreibt der Historiker Karl Schlögel.
Gewiß – an der Oder ist der Sommer 1997 im Bildgedächtnis der Menschen allgegenwärtig. Die katastrophale Flut und die grenzenlose, und nur teilweise grenzübergreifende, Solidarität haben eine Frage wieder auf die Agenda gebracht – und zwar eine tschechisch-polnisch-deutsche Agenda: Was tun mit der Oder, vor allem: Was tun wir, damit es nie wieder passiert? Uwe Rada formuliert deutlicher: Welche Oder wollen wir?
Der Journalist der Berliner taz hat schon in seinem vorigen Buch Zwischenland. Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet das Jahrhunderthochwasser zu einem Wendepunkt in der Entwicklung des Oderraums und somit des Grenzgebiets werden lassen: »Das größte Hochwasser, das die Oder bis dahin erlebt hatte, war nicht nur eine Katastrophe. Es war auch die Geburtsstunde der Oder als europäischer Fluß. (…) Im Augenblick der Katastrophe hielt die Geschichte an der Oder ihren Atem an und eröffnete den Raum fürs Hier und Jetzt.«
Das »Hier und Jetzt« ist für Rada der Fluß – eine Herausforderung, die nur grenzüberschreitend bewältigt werden kann. Wem dabei seine Sympathien gelten, wird dem Leser relativ schnell klar. Das polnische Regierungsprogramm Odra 2006, das nach der Flut aus der Taufe gehoben wurde, und »dem technischen und naturnahen Hochwasserschutz, der Energiegewinnung sowie der Instandsetzung und dem Ausbau der Oder als Wasserstraße« dient, und das alles zugleich, nennt er »ein Vorhaben, von dem jeder weiß, daß es ein paar Nummern zu groß ist, chronisch unterfinanziert und in seinen Zielsetzungen oft widersprüchlich«. Aber auch die Vision eines Ausbaus der Oder zur Wasserstraße nach Vorbild von Elbe und Rhein betrachtet Rada kritisch: »Während Haushalter und Wasserbauer noch über den Ausbau der Oder streiten, hat Polens größte Reederei Odratrans ihr Urteil längst gefällt. Sie hat die Oder aufgegeben.« Auch Rada hat sein Urteil gefällt – seine Sympathie gilt den Naturschützern, die im deutsch-polnisch-tschechischem Aktionsbündnis Zeit für die Oder! den Strom als einen der letzten naturbelassenen Flüsse Europas bewahren wollen, und sie gilt … den Spurensuchern.
Paradoxerweise sieht Uwe Rada die Zukunft der Oder in der Geschichte, er erträumt sich eine Vision der Oder »als Erinnerungsort für Deutsche, Polen und Tschechen«, er formuliert in den letzten Sätzen des Buches nahezu ein Programm: »Städte, Landschaften und Regionen, die ihre Brüche nicht verbergen können und die die Zäsuren, die ihnen die Geschichte auferlegt hat, als Chance zu einem Neubeginn begreifen. Vielleicht müßte man all diese Bilder, die romantischen wie die vernarbten, die traurigen wie die fröhlichen, die von Krieg, Mord und Vertreibung, die von kleinen Vergnügen und den großen Hoffnungen, von Haß und seiner Überwindung, die vielen schwarzweißen und die neuen bunten, an den Ufern der Oder zeigen, aufgehängt an einer langen Leine. Vielleicht würde ein solcher Bilderreigen mehr über die individuellen und kollektiven Hoffnungen in der Oderregion sagen als der Streit um Schleusen und Naturschutzgebiete. Es wäre nicht mehr und nicht weniger als die Inbesitznahme eines Flusses durch die, denen er erst seit mehr als einem halben Jahrhundert Heimat ist. Eine kurze Zeit im Leben eines Flusses, aber eine genügend lange, um zu sagen: Unser Fluß, hier wie dort.«
Was ist dieses Buch also – eine Kulturgeschichte der Oder, eine Flußreise durch Mitteleuropa und seine Geschichte, eine Reportagensammlung aus dem »Zwischenland« oder gar eine »Gebrauchsanweisung für den Fluß«? Es will ein bißchen von allem sein, und ist doch nichts dergleichen. »Jeder hat seine eigene Oder«, lautet ein Schlüsselsatz des Buches, und so wird auch jeder seine eigene Interpretation jener »Flußbiographie« der Oder haben: der Journalist, der Historiker, der Reporter, der Entdecker, der Heimwehtourist, der Naturfreund, der Hobbyschiffer, der Regionalmanager etc. etc. Dieser Fluß, ist »eher die Summe seiner Fragmente denn ein zusammenhängender Kulturraum«; das gilt auch für seine Biographie.

Uwe Rada: Die Oder. Lebenslauf eines Flusses, Kiepenheuer, 222 Seiten, 19,90 Euro. Vom 27.-30. April 2006 findet in Frankfurt/Oder eine internationale Oderkonferenz statt, wissenschaftliche Leitung und Konzeption: Professor Dr. Karl Schlögel, Fakultät für Kulturwissenschaften, Projekt »Odra-Oder«; nähere Informationen: E-Mail: odra-oder@euv-frankfurt-o.de; http://odra-oder.euv-frankfurt-o.de