Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Jeder hat verdient, was er bekommt

von Jochen Mattern

Die Rede von der Bildung als sozialer Frage, die jetzt mehr und mehr um sich greift, ist eine zwiespältige Angelegenheit. Sie hat ihre Berechtigung dort, wo auf mehr Gleichheit gedrungen wird – beim Zugang zu Bildung beispielsweise, aber auch bei den Bildungsergebnissen. Ergebnisgleichheit zu fordern, ist derzeit zwar verpönt, dennoch dringend geboten. Schon aus volkswirtschaftlichen Gründen ist es nicht hinnehmbar, daß die Schule Lebenschancen immer noch nach sozialer Lage und Herkunft verteilt. Sie verstößt damit gegen ein soziales Grundrecht, das in den Schulgesetzen aller Bundesländer geschrieben steht.
Die Bildungspraxis dementiert jedoch den selbstgestellten Anspruch, durch Bildung für Aufstiegsmobilität zu sorgen. Eines der grundlegenden Legitimationsprinzipien moderner Gesellschaften wird damit verletzt: das der Leistung. Statt des meritokratischen macht sich ein ständisches Prinzip geltend: die soziale Vererbung. Demnach bekommt jeder das Seine.
Darin offenbart sich der neoliberale Sinn der Rede von Bildung als sozialer Frage. Vor allem der superlativische Gebrauch erhellt den neoliberalen Zeitgeist. Bildung als die wichtigste soziale Frage des 21. Jahrhunderts zu betrachten, heißt nichts anderes, als die Sozialpolitik durch die Bildungspolitik zu verdrängen. Im Kontext einer Sozialpolitik, die ihre Aufgabe nicht mehr im Schutz vor Standardrisiken des Arbeitslebens sieht, sondern in der Ausstattung der Personen mit unternehmerischen Qualitäten, avanciert Bildungspolitik zur präventiven Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Lebenslanges Lernen gilt in der unternehmerischen Wissensgesellschaft als die beste Art der Daseinsvorsorge, weil es die ständige Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes ermöglicht.
Der Staat, der sich um eine sozial gestaltete Marktwirtschaft kaum noch kümmert, übt desto mehr Einfluß auf den Arbeits- und Bildungsmarkt aus, um die »Humankapitalbildung« im Interesse des Wirtschaftsstandortes zu optimieren. Dies führt zum einen dazu, daß sich staatliche Politik auf die öffentliche Gewährleistung einer individuellen Grundausstattung reduziert, die es jedem einzelnen ermöglichen soll, für sich selbst Sorge zu tragen. Auf der anderen Seite ergeht sich der Staat in Appellen an seine Bürger, sich als »Humankapital« zu begreifen und im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt Investitionen in das eigene Selbst zu tätigen. Statt der Verteilungsgerechtigkeit hat der aktivierende Staat nurmehr die Chancengerechtigkeit im Auge, womit gleiche Chancen für alle am Start zum lebenslangen Bildungswettlauf gemeint sind. Auf den Anfang komme es an, lautet die Devise.
Zur Rechtfertigung des Abschieds von der Verteilungsgerechtigkeit muß das Argument herhalten, daß die in der Vergangenheit übliche Belohnung falschen Verhaltens – verwiesen sei auf die berühmt-berüchtigte soziale Hängematte – soziales Lernen verhindert habe. Es bedürfe deshalb stärkerer Anreize zur Aktivierung der einzelnen, damit diese sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten und sie in die Gesellschaft integriert werden könnten. Zu dem Zweck trifft der Sozialstaat Vorsorge in Form von »opportunities«, Gelegenheiten zum Lernen also, die es nach eigenem Vermögen zu nutzen gelte. Die Reduzierung des staatlichen Angebotes auf die Bereitstellung von individuell zu nutzenden Lerngelegenheiten bewirkt einen höheren Anteil an der »Humankapitalbildung«, der von den einzelnen selbst zu erbringen ist. Deren Investitionsbedarf an Zeit und Geld steigt immens.
Die Rede von Bildung als sozialer Frage erweist sich im neoliberalen Sprachgebrauch als Ausdruck einer »Individualisierung« von Bildung, die strukturelle Probleme in persönliche Probleme umdeutet und an die »Verantwortung des einzelnen« appelliert. Sie beruht auf einer Anthropologie der Ungleichheit. Dieser zufolge haben es die einen, die mit Intelligenz und Talenten reichlich ausgestattet sind, verstanden, die sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen, die anderen aber, die weniger Intelligenten und Talentierten, haben dies nicht vermocht.
Gleichwohl wird das als gerecht empfunden: Denn jeder habe verdient, was er bekomme. Und Grund zur Sorge bestehe auch keiner. Die freie Entfaltung sogenannter Leistungsträger komme schließlich auch den »Leistungsschwachen« zugute. Ihre Herrschaftspositionen rechtfertigt die Aristokratie der Intelligenz nicht durch Vorrechte der Geburt, sondern durch den Besitz sozialen und kulturellen Kapitals, das als naturgegeben betrachtet wird. Diesem Glauben an die naturwüchsige Verteilung dieser »Kapitalsorten« ist die Überzeugung von der universellen Bildungsfähigkeit der Menschen gewichen. Sie hatte das progressive Bürgertum einstmals gegen das ständische Prinzip der Vererbung ins Feld geführt.