von Herbert Feil
Was war Wieland Wagner – Konservator, Erneuerer oder Hitler-Günstling? Darüber ist in der Vergangenheit viel gestritten worden. Aufgewachsen auf dem Grünen Hügel, hatte der Wagner-Enkel miterlebt, wie das Festspielhaus zum Mausoleum geworden war. Nach dem Zusammenbruch von 1945 musste Bayreuth aus sich heraus beweisen, ob es als Idee überhaupt noch lebensfähig sein könnte. Gezwungenermaßen war Winifred Wagner von der Festspielleitung zurückgetreten, die sie 1930, nach dem Tod ihres Gatten Siegfried Wagner, übernommen und in unheilvolle Bahnen der Hitler-Nähe geführt hatte. Ihre Söhne, der 34jährige Wieland und der um zwei Jahre jüngere Bruder Wolfgang, traten nun das Bayreuther Erbe an und mussten mit der Wiederaufnahme der Festspiel-Tradition im Jahre 1951 zeigen, ob eine Erneuerung der – scheinbar sakrosankten – Tradition überhaupt möglich war. Weder Naturalismus noch historischer Realismus, schon gar nicht ein vordergründiges „Gesamtkunstwerk“, sondern visionäres Theater war das neue Ziel des Regisseurs und Bühnenbildners Wieland Wagners, das ihm mit seiner ersten „Parsifal“- und „Ring“-Inszenierung vorschwebte.
So setzte seine produktive Wirksamkeit, seine Neuorientierung eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein und sein Neu-Bayreuther Inszenierungsstil durchlief verschiedene Phasen bis zu seinem frühen Tod 1966, unmittelbar vor seinem 50. Geburtstag, also bis gegen Ende des „kalten Krieges“ im zweigeteilten Deutschland. Den Neuerungen seiner tiefenpsychologisch-archetypischen, abstrakten Inszenierungen in dieser „Epoche der reinen Form“ zu Anfang der 60er Jahre folgten dann in einer zweiten Phase die ästhetischen Konkretisierungstendenzen: plastische Zeichen auf der Bühne, plastische Gestaltung der Personenregie. Der Aufstand gegen den rauschhaften „Gesamtverzauberer“ Richard Wagner war damit geprobt worden und hatte bei den Wagnerianern höchste Bewunderung wie erbitterten Widerstand hervorgerufen.
Die österreichische Theater- und Musikwissenschaftlerin Ingrid Kapsamer hat ein fundamentales Werk über Wieland Wagner geschrieben. Als ihre Fürsprecher fungieren sowohl Nike Wagner, die Tochter von Wieland Wagner, Intendantin des Kunstfestes Weimar, als auch Wolfgang Greisenegger, Kapsamers einstiger Doktorvater, Nestor der österreichischen Theaterwissenschaft und Präsident des österreichischen P.E.N.-Clubs. Deren beider Vor- und Geleitwort fassen die Vorzüge dieses Buches prägnant zusammen. Die auf einem eingehenden Quellenstudium beruhende Arbeit Ingrid Kapsamers ist überzeugend strukturiert. Die Verfasserin spürt den künstlerischen, familiären und ideologisch-politischen Wurzeln des „Schöpfers von Neu-Bayreuth“ nach, erläutert seinen künstlerischen Werdegang, seine Auseinandersetzung sowohl mit Wagners Werken und Schriften als auch mit den Reformbewegungen des Theaters des 20. Jahrhunderts, seine Neuordnungskonzepte und Lösungswege, ästhetischen Auffassungen und Inszenierungsmethoden, seine spezielle Arbeitsweise, der sich der Wagner-Enkel bediente. Sie stellt nicht nur die Bayreuther Festspielinszenierungen in ihrer charakteristischen Eigenart dar, sondern behandelt auch jene Aufführungen, die Wieland Wagner für andere deutsche Bühnen gestaltet hat. Diese Werk-Biographie hat keineswegs die Absicht, das Puzzle der Wagner-Familiengeschichte aufdröseln, sie will nicht Licht in das Gestrüpp von Behauptungen, Anfeindungen, Beziehungskrisen, Zwistigkeiten, Kaschierungen der Familien-Mitglieder bringen, sondern hält sich exakt – immer auf der Basis des vorliegenden Materials – an das konzeptionelle und szenische Programm Wieland Wagners. Die Verfasserin argumentiert, löst Legenden auf, zieht Vergleiche und Schlüsse. Sie behauptet nicht, sondern belegt und hat eine eigene Meinung, die ebenso manchen Wagnerianern wie Anti-Wagnerianern unbequem sein dürfte.
War das Neu-Bayreuth, die „Ära Wieland Wagner“ wirklich der Anbruch einer neuen Ära? Schon Wieland Wagners erste Inszenierung 1951 war ein Bruch mit der Inszenierungstradition und ihrer Vorliebe für das erzählende und schmückende Detail, es war eine Neudeutung des „Gesamtkunstwerkes“ durch intensives Studium von Richard Wagners kunsttheoretischen und zeitgeschichtlichen Schriften, aber auch durch Erkenntnisse der Tiefenpsychologie Freuds, der Symbolforschung der C.G. Jung-Schule, der Mythenforschung sowie der Malerei der Moderne (Picasso, Piet Mondrian, Henry Moore). Wieland Wagner verstand dann in den folgenden Inszenierungen neueste (licht)technische Errungenschaften zu instrumentalisieren, er vermochte Lichträume zu schaffen, die von allem Gegenständlichen befreit zu sein schienen, Räume, die Maß und Stimmung nur aus der Partitur entwickelten.
In seiner ersten „Tristan“-Neuinszenierung von 1952, die der junge Herbert von Karajan dirigierte, hatte Wieland Wagner noch radikaler alles überflüssige Beiwerk eliminiert. Das Wort von der „Entrümpelung“ machte die Runde. Es war eine szenische Revolution der Wagner-Bühne. Mit diesen drei Inszenierungen hatte Wieland Wagner „Neubayreuth“ definiert: eine kreisförmige Spielfläche, auch Wielands „Weltenscheibe“ bezeichnet, ein neutrales Spielpodium, das das Geschehen durch Licht isoliert, aber jede Aktion analytisch scharf demonstriert, und das konträr zu Brechts dialektischem Theater-Modell steht. Die „Weltenscheibe“ gibt dem Theater einen Teil seiner mythischen Dimension in hoher synästhetischer Qualität zurück. Das Bühnengeschehen hält Abstand vom Publikum, kreiert eine Kunst-Welt, deren Deutung jede – banale – Aktualisierung, jeden Realismus verbietet. Auf dieser das Universum symbolisierenden Bühne transformierte Wieland Wagner die Charaktere der dramatischen Personen zu Symbolträgern von archaischer Größe. Er steckte die Sänger in vereinfachte, aber ausdrucksvolle Kostüme von eher dramatischer als dekorativer Funktion und konzentrierte die Bühnenaktion auf spannungsvoll bedeutsame Gestik und Mimik. Die Bühne wurde zum „geistigen Raum“. Am wohl extremsten verwirklichte er diese Idee in seiner optisch streng geometrischen „Tannhäuser“-Inszenierung, die erstmals 1954 auf die Bühne kam.
Immer wieder hat er das Wagner-Publikum schockiert, so mit den „Meistersingern“ von 1956, indem er das Nürnberg des Hans Sachs zugunsten einer Shakespeareschen Assoziation vollends eliminierte, ohne exakt zu definierenden zeitlich-räumlichen Ort, oder in dem berühmten, in blausilbernen Dekorationen inszenierten „Lohengrin“ von 1958, den er ganz als Mysterienspiel angelegt hatte. Man warf ihm nicht nur bei dieser Inszenierung vor, im Grunde nur kostümierte Oratorien zu inszenieren. Aber er hat einen eigenen Stil geschaffen und mit ihm Maßstäbe der Wagner-Inszenierung gesetzt, die von Bayreuth auf die europäische Bühnenwelt ausstrahlten. Mit dem Verzicht auf die herkömmliche Illusionserzeugung entwarf Wieland Wagner in den 50er und 60 er Jahren eine „Dramaturgie des unsichtbaren Theaters“ (Hans Mayer). Als er 1966 – kaum 50 Jahre alt – starb, fiel seinem Bruder Wolfgang das alleinige Erbe der Festspielleitung zu.
Vielleicht hätte Ingrid Kapsamer aber auch stärker auf die Torheiten, die Widersinnigkeiten des seit dem ersten „Parsifal“ weithin als Theatergenie gepriesenen Wieland Wagner eingehen müssen, der keineswegs immer so originell war, wie seine größten Verehrer glauben wollten. Und vielleicht hätte auch ein Vergleich Wieland Wagners mit seinem Antipoden Walter Felsenstein an der Komischen Oper in Ost-Berlin – beide gehörten ja zu den einflussreichsten Opernproduzenten im geteilten Nachkriegsdeutschland – produktive Aufschlüsse gegeben, auch wenn letzterer sein Konzept des realistischen Musiktheaters nicht am musikdramatischen Werk Richard Wagners erprobte. Hier (im Westen) – Wieland Wagners hieratischer Darstellungsstil – dort (im Osten) Felsensteins „narrativer“ Darstellungsstil – das wäre ausbaufähig gewesen. Dagegen wird auf den Dialog zwischen Wieland Wagner und Ernst Bloch, der sich in der „Parsifal“-Inszenierung 1963 niedergeschlagen hat, ausführlicher eingegangen. Wieland Wagners „Weg vom Wagner-Kult“, „Hin zum kultischen Theater“ , die Demokratisierung der Szene bei einer – Gefahren bergenden – Ästhetisierung der Politik und schließlich die Umfunktionierung des mythischen Musikdramas zu „politisch-sozialer Parabel und psychologischem Exempel“ in Wieland Wagners zweiter „Ring“-Inszenierung in Köln 1962/63 und bei den Bayreuther Festspielen 1965 – „Von Walhall nach Wallstreet“ titelte „Der Spiegel“ damals – vermag sie überzeugend darzustellen.
Diese Arbeit eröffnet neue Sichten nicht nur auf Wieland Wagner selbst, inbegriffen die Wagner-Strategie des Grünen Hügel, sondern auch auf die europäische Kultur-, Musik- und Theatergeschichte der Nachkriegszeit.
Ingrid Kapsamer: Wieland Wagner. Wegbereiter und Weltwirkung. Mit einem Vorwort von Nike Wagner und einem Geleitwort von Wolfgang Greisenegger, Styria Verlag, Wien / Graz / Klagenfurt 2010, 416 Seiten, 24,95 Euro
Schlagwörter: Bert Kammer, Herbert Feil, Ingrid Kapsamer, Nike Wagner, Styria Verlag, Wieland Wagner, Wolfgang Greisenegger