von Klaus Hart, São Paulo
In bestimmten europäischen Medien, in Feuilletonredaktionen, Verlagen und PR-Agenturen herrscht seit Jahrzehnten panische Angst vor diesem Thema, jeder kleinste Hinweis wird unterdrückt. Indessen existieren die Fakten: Der vielfach preisgekrönte brasilianische Dokumentarfilmer Vladimir Carvalho hörte von einem Blutbad, gar einem Massaker an protestierenden Bauarbeitern Brasilias im Jahre 1959, und holte zahlreiche Zeitzeugen vor die Kamera. Für den – das erste Mal auf dem Brasilia-Filmfestival von 1990 gezeigten – Streifen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sogar von der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB und von der Kritikerassoziation São Paulos.
In einem langen Exklusivinterview äußerte sich Carvalho zu den Vorgängen und Hintergründen bei der Errichtung Brasilias. Einer, der die Bauarbeiten beaufsichtigte, war Oscar Niemeyer.
Es wird gern und häufig jene Heldensage, jener regelrechte Mythos um die Errichtung der brasilianischen Hauptstadt verbreitet, nach dem der große Architekt Niemeyer immer nahe bei seinen geliebten Arbeitern gewesen sei, im Staub der Savanne. Alle hätten an einem Strang gezogen und gemeinsam das gingantische Werk vollbracht, das schon bald darauf zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.
Aber es existieren auch dem widersprechende Darstellungen, darunter Carvalhos Dokumentarfilm Conterraneos Velhos de Guerra und ein Exklusivinterview mit einem der Bauarbeiter.
»Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen«, sagt Carvalho, »alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Entsprechend wurden die Arbeiter behandelt. Wie berichtet wird, gab es sogar verdorbenes Essen. Und während eines Karnevals verstieg sich die Bauleitung dazu, das Wasser im Bauarbeiterlager abzustellen, um zu verhindern, daß sich die Arbeiter waschen konnten, um danach in Nachbarstädten des Teilstaates Goias Karneval zu feiern.
Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter verloren die Geduld, warfen die Teller mit dem Essen aus dem Fenster, aus Protest. Da rief man die Bauplatzpolizei, die Guarda Especial de Brasilia, die sollte eingreifen.
Die Arbeiter wehrten sich nach Kräften, schafften es sogar, die Bauplatzpolizei zurückzutreiben. Der Tag verging – doch nachts, als alle im Bauarbeitercamp schliefen, kam die Polizei erneut und feuerte mit Maschinenpistolen in das Lager. In Brasilien sagt man, das Volk übertreibe, aber erfinde nichts – O povo aumenta, mas nao inventa. Das Volk könnte also die Vorfälle übertrieben geschildert haben – es hat aber nichts erfunden, sondern ging von einem konkreten Fall aus.
So könnte man die Zahl der Ermordeten zu hoch angegeben haben. Im Film sagt einer dreißig Tote, ein anderer sechzig, wieder ein anderer 120, einer sogar etwa fünfhundert. Ich habe im Dokumentarfilm Positionen von Personen aneinandergereiht, die damals dabei waren, oder die Vorfälle mitbekommen hatten. Ich kann nichts beweisen. Der Film ist lediglich ein Wort gegen alle, die heute behaupten, es habe kein Blutbad gegeben – und die in der Regel mit der damaligen Administration liiert waren und den damaligen Staatspräsidenten Juscelino Kubitschek loben.
Es handelte sich damals um eine Repressalie gegen revoltierende Arbeiter. In Brasilia kann man noch heute Ältere, darunter Taxifahrer von damals, treffen, die davon berichten und deutlich sagen: Ja, es gab diese Toten! Nur eine einzige Zeitung, O Binomio aus Belo Horizonte, die in Opposition zur Kubitschek-Regierung stand, wagte über eine Revolte von Bauarbeitern zu berichten, die gewaltsam unterdrückt worden sei und daß es offenbar Tote gegeben habe.
Wegen dieser Toten, wegen des ganzen Falles wurde übrigens Brasiliens erste Bauarbeitergewerkschaft gegründet. Es gab damals viele Unfälle. Viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten, Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren, und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Zeugen sagten: Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, sie sollten den Bau ja beenden. Die Arbeiter waren schlichtweg fix und fertig, deshalb kam es zu diesen Unfällen. Weil man eben die Sicherheitsbestimmungen stark gelockerte hatte.«
Vladimir Carvalho befragte für den Dokumentarfilm auch Oscar Niemeyer: »Ich ging zu ihm, weil ich dachte, er kenne die ganze Geschichte, könne alles bezeugen, könne bestätigen, was die anderen mir sagten. So wie eine einfache Wäscherin: Am Tage des Massakers wollte sie den Arbeitern die gewaschenen Sachen ins Lager bringen, doch man ließ sie nicht hinein. Sie hob die Sachen ein ganzes Jahr lang auf – und als sie erfuhr, was da im Lager passiert war, verschenkte sie die Sachen der Bauarbeiter an andere Leute.
Doch Oscar Niemeyer verneinte, daß das Blutbad geschehen sei, er sagte: Davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört. Er war ein großer Freund von Juscelino Kubitschek. Auch über die Arbeitsunfälle wollte Niemeyer nicht reden. Und heute will gleich gar keiner von den Leuten oben über die Vorfälle sprechen. Niemeyer wird jetzt hundert Jahre alt, niemand will ihn verärgern. Für dessen Biographie ist der Fall nicht gut.«
Carvalho befragte für den Film auch den Architekten Lucio Costa, der mit Niemeyer in Brasilia zusammenarbeitete. »Als ich Costa auf den Fall ansprach, sagte er mir: Was willst du denn, das war der Bau einer Stadt, kein Duett tanzender Kavaliere.«
Laut Carvalho wurde zwar eine Untersuchung zu den Vorgängen gestartet, doch seien, wie es heiße, die Unterlagen verbrannt. Laut der Aussagen eines Zeitzeugens im Film wurden die ermordeten Bauarbeiter dort verscharrt, wo heute in Brasilia der Fernsehturm steht. Einige hätten noch gelebt, als die Planierraupe die Erde über sie schob.
1997 wurde in Brasilien das Buch Conterraneos Velhos de Guerra herausgegeben, das das gesamte Drehbuch sowie die Kritike rstimmen über den Dokumentarfilm enthält. Es steht allen zur Verfügung, die über Niemeyer und Brasilia schreiben sowie Ausstellungen und PR organisieren.
Schlagwörter: Klaus Hart, Oscar Niemeyer