von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Die FAZ und andere meinungsbildende bundesdeutsche Presseerzeugnisse nahmen den Tod des Philosophen Richard Rorty (1931-2007) mit Respekt und Trauer zur Kenntnis. Bewunderung für und Übereinstimmung mit Rortys postmodernistischer Ironie und Skepsis gehören unter amerikanischen Intellektuellen zum guten Ton, darunter viele ehemalige Linke, die sich mit dem Realkapitalismus längst versöhnt haben und die alten sozialistischen Träume als Jugendsünden mild belächeln.
Mit der durchaus richtig diagnostizierten »Sozialdemokratisierung« von Rorty wird oft allerdings eine wichtige Dimension von Rortys Denken unter den Tisch gekehrt. Denn im Unterschied zu anderen linksliberalen Intellektuellen gerade in deutschen Landen sah dieser amerikanische Denker in vielen der angeblichen »Reformen« des Sozialstaates nicht dessen Um-, sondern dessen systematischen Abbau.
Klassenkampf-Rhetorik und vor allem Klassenkampf-Praxis sind keineswegs nur in linkssektiererischen Zirkeln, sondern auch im von Selbstzweifeln kaum geplagten geistigen Mainstream und bei den Vertretern der dahinterstehenden und zumindest für Rorty recht augenscheinlichen Interessen zu Hause. Dieser Renaissance der Umverteilung von unten nach oben stellte sich Rorty entgegen. Für ihn hatte dies weniger mit Sozialromantik zu tun, um ein gängiges Klischee und einen üblichen Vorwurf zu zitieren, sondern viel mehr mit einer kritischen Analyse jenseits von alten oder auch neuen Denkschablonen und Tabus. Wie würde unsere westliche Welt ohne den opferreichen Kampf der Linken und der Gewerkschaftsbewegung aussehen?
Rortys intellektuelle Entwicklung sowie auch sein familiäres Umfeld spiegeln ein gutes Stück amerikanischer und auch europäischer Geistes- und Kulturgeschichte. In dem 1992 verfaßten Essay Trotsky and the Wild Orchids beschrieb Rorty, wie er seit frühester Kindheit die Bücher Trotzkis mit fast dem gleichen Enthusiasmus und ähnlicher Entdeckerfreude las wie Krafft-Ebings Psychopatia Sexualis. Bis 1932 in der American Communist Party aktiv, wurden seine Eltern vom Daily Worker der trotzkistischen Häresie bezichtigt. Die Nähe zu Trotzki führte Rortys Vater in das Umfeld eines Denkers, der den kleinen Richard bis an sein Lebensende beeinflussen sollte: John Dewey. Im Rahmen der Dewey Commission of Inquiry into the Moscow Trials unterstützte Rorty Senior John Dewey als Verantwortlicher für Öffentlichkeitsarbeit. Nach Trotzkis Ermordung floh einer dessen Sekretäre, John Frank, um Stalins Agenten zu entgehen, zu den Rortys in die USA.
Neben Trotzki und Dewey gehörte Familienfreund Sidney Hook für den jungen Richard Rorty zu den bleibenden Eindrücken. Hook ist für seine scharfsichtigen geistesgeschichtlichen Analysen ebenso bekannt – beispielsweise From Hegel to Marx –, wie er für sein denunziatorisches »Talent« ehemaligen Mitstreitern gegenüber berüchtigt ist. Doch trotz aller Schattenseiten Hooks erinnerte uns Rorty daran, daß es dem Einfluß kritischer Intellektueller wie Dewey und Hook zu verdanken war, daß die amerikanische Linke stalinistischen Vereinnahmungsversuchen stärker widerstand als ihre europäischen Genossen und Genossinnen.
Trotz der im Laufe der Jahrzehnte zunehmenden Skepsis gegenüber der praktischen Durchführbarkeit der mit dem Jahre 1917 verbundenen sozialistischen Hoffnungen verteidigte Rorty die mit der sozialistischen Utopie verbundenen ethisch-moralischen Grundsätze einer liberal verfaßten und zugleich sozial gerechten Gesellschaft. Wissenschaftler, meinte er, müßten aus ihren Elfenbeintürmen, gebaut aus rein theoretischen Überlegungen, heraus und hinein in die sozialen Auseinandersetzungen der Zeit. Gerade heute, wo von einflußreicher Seite Demokratie zunehmend mit Plutokratie verwechselt wird, ist Rortys Widerstand gegen den sogenannten post-demokratischen Diskurs, wie Demokratie- und damit verbundener Sozialabbau verharmlosend genannt werden, bedenkenswert. It is time to revive the kind of leftist politics … a politics that centres on the struggle to prevent the rich from ripping off the rest of the country.
Neben Trotzki und Dewey ist übrigens noch ein anderer, wenn auch mehr unterschwelliger früher Einfluß auf Rorty zu diagnostizieren. Walter Rauschenbusch, Rortys Großvater mütterlicherseits, war einer der wichtigsten Vertreter der Social Gospel-Bewegung in Nordamerika. Die Anhänger dieser protestantisch-christlichen intellektuellen Strömung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts legten großen Wert auf die soziale Frage als Grundstein christlicher Prinzipien. So begiff Rauschenbusch den Kampf um soziale Gerechtigkeit als das Gottesgebot des Christentums. Diese Auffassung vertrat er nicht nur von der Kanzel herab und in seinen zahlreichen Büchern wie Christianity and the Social Crisis, sondern konkret in seinem Kampf gegen Armut, soziale und rassistische Diskriminierung sowie gegen Kriegstreiberei. Geprägt von der liberal-protestantischen und dezidiert antimetaphysischen Theologie eines Albrecht Ritschl entwickelte sich Rauschenbusch zunehmend in eine sozialistische und pazifistische Richtung.
Wie sein Großvater blieb Rorty seinen progressiven Überzeugungen bis an sein Lebensende treu, ohne sich ideologisch vereinnehmen zu lassen. Wer diesen interessanten Lebensweg als Denkangebot nachzeichnen möchte, dem sei als Einstieg Rortys auch autobiographische Essay-Sammlung Philosophy and Social Hope empfohlen.
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