von Elke Sadzinski
Staller hatte das Gefühl, ihm seien ungefähr drei Billionen graue Zellen weggestorben, war sich aber nicht sicher, ob der Vorrat in seinem Schädel überhaupt so groß gewesen war. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Die Bilder bei Zehlendorfer Freunden waren von bemerkenswert fachkundiger Hand gerahmt, so daß Staller beschlossen hatte, die seinen der gleichen Fachhand anzuvertrauen. Komm einfach her, sagten die Freunde aufmunternd, wir führen dich dorthin.
Staller ahnte, der Bahnstreik würde ihn ins Auto zwingen. Autofahren als solches konnte er zwar hervorragend, sich orientieren hingegen … Es waren in seinem Kopf offenbar keine Bereiche dafür vorgesehen. Für den Spruch »Was Hänschen nicht lernt …« lieferte er immer neue Beweise. Zehlendorf schien machbar: Schließlich war er die Strecke oft mit einem menschlichen Navigator neben sich gefahren, da sollte er es verdammt nochmal auch alleine packen können!
Ausgangspunkt Köpenick, also rauf auf die Autobahn, in Neukölln fand er alles so vor wie erinnert, dann erste Abfahrt Tempelhof. Tempelhof? Da wollte er keinesfalls hin. Zehlendorf lag Richtung Potsdam, soviel wußte sogar Staller, also mußte er weiter Richtung Leipzig/Magdeburg. Oder? Aufkommenden Zweifel mußte man mit Logik abwehren! Die Tempelhofer Abfahrt flog rechts vorbei. Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn …
Der Song arbeitete sich in seinem Hirn nach vorn. Potsdam – halt! Hatte er nicht eben das Wort Potsdam im Augenwinkel wahrgenommen? Wo war überhaupt seine Brille? Staller riß das Steuer rum und folgte der Abfahrt mit dem vermeintlichen Potsdam-Verweis. Welche Überraschung, als die Autobahn Staller wieder nach Adlershof führte, seinem Ausgangspunkt nahe gelegen. Wie jetzt? Er erwog kurz das dringende Bedürfnis, nach Haus zurückzukehren und die ganze Aktion abzublasen. Aber da Blau am novemberlich-trüben Himmel stand und Staller dieses dringend für ein Foto eines Potsdamer Institutsgebäudes benötigte, beschloß er spontan, Zehlendorf mit Potsdam zu verbinden und nur die Reihenfolge zu ändern. Staller steckte die Schlappe am Adlergestell weg und schickte sich an, mit der Kirche ums Dorf nach Potsdam zu fahren. Ein Weg, den er aus DDR-Zeiten gut kannte. Nun aber Bleifuß!
Nichts sah aus wie ehedem, also schoß Staller an jeder sich bietenden Möglichkeit, auf kürzerem Wege nach Potsdam zu gelangen, vorbei – wobei ihm seine Verfehlungen jeweils erst danach dämmerten … Stunden später, nachdem er viele unbekannte Dörfer hatte kennenlernen dürfen, bog er mit blinkender Tankanzeige, dafür aber gut gefüllter Blase vor dem Institut ein. Der Besuch einer öffentlichen Toilette blieb ihm jedoch verwehrt – andere Länder, andere Feiertage! Verschlossene Gitter rings um das Institut.
Ein Moment, da Staller, obwohl erklärter Handy-Gegner und mit dem Gebrauch auch nur rudimentär vertraut, zum selben griff. Er hatte es, von der Gattin für den Notfall aufgedrängt, sogar bei sich. Ein kurzes therapeutisches Gespräch richtete ihn wieder auf. Staller kletterte auf die das Institut umgebende Mauer, schob unter den argwöhnischen Blicken feiertagsbräsiger Flaneure den Apparat durch den Zaun und schoß einige Fotos vom Gebäude. Die nächstgelegene Tankstelle hatte kein WC, also weiter nach Zehlendorf, Blasendrang ignorieren… Sein angepeilter Weg über die Glienicker Brücke blieb ihm verwehrt, als eine aufgerissene Straße mit einem Umleitungsschild ihn davon wegführte. Scharfe Rechtskurve – und die Karawane, in deren Mitte sich Staller befand, schoß über die Bahnhofsbrücke zurück, hin zur Autobahn.
Keine Wendemöglichkeit, bemerkte Staller hastig im Vorbeiflug, also weiter. Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn …
Staller kam zum gefühlten 10ten Mal an einem architektonisch unverwechselbaren Komplex vorbei, wähnte sich kurz vor einem cholerischen Anfall, als ihm die schiere Blamageangst den Blick für das winzige Umleitungsschild »Wannsee/Nauen« schärfte. In einer aufblitzenden Erhellung schien ihm Wannsee mit Zehlendorf in topographischem Zusammenhang zu stehen. Über nie geahnte Wege und ohne jede Erkenntnis, wie die Anfahrt schließlich glückte, fuhr Staller endlich über die Glienicker Brücke.
Vier Stunden, nachdem er aufgebrochen war, traf er in Zehlendorf bei den besorgten Freunden ein. Erstmal einen Tee, der beruhigt, rieten diese. Als der Hausherr zu immer neuen Scherzen über Stallers Ungeschick anhob, erinnerte sich dieser des Grundes seines Besuchs: seine zu rahmenden Bilder. Die Freundin erbot sich zu fahren, Staller sank dankbar und ermattet in die Polster.
Sie fuhr Wege, die denen Stallers sehr zu ähneln schienen, ihr Tempo war rasant, und Staller machte sich gefaßt, den Bilderrahmer in Adlershof anzutreffen … In unbekanntem Westberliner Terrain trafen sie schließlich ein, der fachkundige Kollege hatte Urlaub, war somit abwesend. Staller fühlte weißes Rauschen aufsteigen.
Ein Azubi, der zu Beratung außerstande war, überließ die enttäuschten Kunden mit ungefähr zweihundert Passepartouts und ebensovielen Leistenvarianten ihrem Schicksal. Stunden später hatten sie sich entschieden und konnten den Auftrag dem jungen Mann in die Kladde diktieren. Mit Vollgas vom Hof hin zur Dorade, die der hobbykochende Hausherr derweil zubereitet hatte. Sie zu verspeisen, war für Staller die erste angenehme Verrichtung des Tages.
Die hereinbrechende Dämmerung drängte allerdings zur Heimfahrt. Das ganze wieder retour, und auch noch im Dunkeln? Außerdem war Halloween, also keine Experimente mehr! Staller wählte den bewährten, weil einzig bekannten Weg über Steglitz und Potsdamer Straße. Ab Steglitzer Kreisel erfolgte die Heimreise im stop-and-go-Tempo. Staller versank in einer Art Kupplungs-Trance, die sich erst am Molkenmarkt auflöste. Waren Stunden oder Tage vergangen? Dem Verkehrsaufkommen nach waren offenbar George Bush, der Dalai Lama und Osama Bin Laden zu einem Blitzbesuch in Berlin eingetroffen, vermutlich gleichzeitig. Die alarmierten Verkehrsleitzentralen hatten für dieses Ereignis unverzüglich die entsprechenden Programme anlaufen lassen.
Als Staller die Treppen zur Wohnung hinaufschlich, fiel ihm seine Lieblingskarikatur ein. Ein ganz kleiner Mann steht mit einer ganz großen Aktentasche vor der Haustür und sagt zu der in der Türfüllung stehenden Ehefrau: Erstmal einen Drink, Marta – dann erzähl ich dir alles.
Die Bilder würden in einer Woche abholbereit sein, zog es Staller durch den Kopf, als er den Pfropfen von der Grappa-Flasche zog. Aber nicht mit ihm!
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