von Angelika Leitzke
Sie kamen aus dem Hohen Norden, dem entfernten Sibirien, den heißen Mittelmeerregionen, den Rocky Mountains und aus schottischen Nebeln – aus allen Bezirken und Randgebieten der großen Stadt. Heidschnucken, Dallschafe, Mufflons, Dickhörner und Shetländer trafen sich unlängst in Berlins historischer Mitte, um zu sehen, wie denn nun die einheimische Museumslandschaft mit ihren eingerüsteten Hügeln und tiefen Baustellenlöchern beschaffen sei. Unter der Führung eines Leithammels, der, da er seine Lesebrille nicht finden konnte, irrtümlich zu weit gen Osten vorangetrottet war, gelangte die Herde – zu der sich neben Haus- und Wildschafen auch einige verirrte Lämmer gesellt hatten – schließlich an einen architektonisch wie botanisch etwas kahl gefressenen Platz, an dem diverse Schilder jedoch auf einen neuen Musentempel verwiesen.
»Hurra, der Abend ist gerettet«, dachte der Leithammel bei sich, nachdem er endlich seine Sehhilfe wiedergefunden hatte, die sich in den Untiefen seines Schafpelzes verheddert hatte. »Auf zur Kunst«, meckerte er die Horde an, die nun, des Herumwanderns müde, sich blökend und diverse Brocken schwarzen Schafskots hinter sich lassend, in die gläsernen Hallen des neu errichteten Kunstgebäudes drängte. Da die Menge sich aber im Verlauf ihres City-Marsches aus noch nicht näher geklärten Gründen beträchtlich vermehrt hatte, fingen die Tiere an, mit- und gegeneinander an die Türen des Musentempels zu stoßen, die von smarten Aufsehern im schicken C&A-Nadelstreifenlook bewacht wurden. »Wo ist die Kunst?« blökte ein Schaf, das die Wahl zum Leithammel kürzlich nur knapp verfehlt hatte, und riß mit seinen geschweiften Hörnern – es handelte sich um ein in Alaska beheimatetes Dall-Schaf – die Tore ein, diverse Glassplitter um sich versprengend. Die Herde tat es ihm nach, indem sie einfach die Wärter ungestüm niedertrat, die per Mobilfunk die Museumsleitung auf den möglichen Ernst der Lage hinwiesen.
Innen blieb kaum Zeit zum Staunen, geschweige denn zur Erbauung und Selbstreflexion. Denn die Zahl der Tiere war mittlerweile auf einige Zehntausend geklettert und der Leithammel längst in der Masse untergegangen, noch ehe er sich an seinen christlichen Auftrag »Weide meine Lämmer« hatte erinnern können. Das nostalgische Interieur im Art Déco à la Ruska, mit dem sich der Musentempel in einem Anfall von reanimiertem Historismus tapfer, aber teuer gerüstet hatte, fand keines Blickes Würdigung. Statt dessen trampelten die Schafe, ob freiwillig oder mitgezogen im Sog der Masse, über Notebooks, Handys und CD-Player, zerfledderten Strickjacken, Jeans und T-Shirts und taten sich an den Feinkostabteilungen gütlich, nachdem sie zunächst einige Blumenstände ratzekahl gefressen hatten. Mehreren Lämmern gelang es, mittels eilig ergatterter Handys ihren Verwandten zu Hause die ersten Eindrücke ihres kulturellen Sightseeings lebensnah zu vermitteln. Dabei bat das spanische Merino-Schaf, das sein natürliches Gewand in der Verarbeitung zu exquisiter Strickware wiedergefunden hatte, seine Landsleute, gerichtliche Schritte gegen die infamen Böcke in der Bekleidungsindustrie einzuleiten.
Nach mehrstündigem Treiben, das einigen Museums-Hiwis und Security-Leuten, zweitausend Metern Dekostoff sowie dreitausend Kilogramm Pilzen das Leben kostete und die Alarmanlage des Hauses außer Betrieb setzte, ertönten die schrillen Pfiffe der anrückenden Polizei. Doch erst nach längerem Einsatz, bei dem es noch einige Verletzte gab und diverse Lämmer zur Notbehandlung in die nahe gelegene Tierklinik gebracht werden mußten, konnte die Randale halbwegs unter Kontrolle gebracht werden. Die ausgestellte Pracht der Luxusexponate war zwar dahin, dafür aber waren Augen, Ohren und Mägen halbwegs gesättigt. »Und wo ist nun die Kunst?« fragte etwas belämmert eine kleine Heidschnucke, die zitternd unter dem Schoß ihrer Mutter hervorkroch. »Was bist du doch bloß für ein dummes Schaf«, gab diese zur Antwort, etwas lallend, da sie den Bauch mit Bioziegenmilch samt einem Schuß Wodka gefüllt hatte. Über den Verbleib dieses kulturinteressierten, aber verirrten Jungtieres ist nichts bekannt, wahrscheinlich wurde es auf dem Heimweg zu Tode getrampelt oder fiel in die Spree.
Jedenfalls wurde das alttestamentarische Gebot, täglich zwei Lämmer zu opfern, halbwegs gebührend befolgt. Wir können zufrieden sein, auch wenn wir nicht genau wissen, wozu das Ganze gut war.
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