Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 10. Juli 2007, Heft 14

Galilei für heute

von Charles H. Helmetag, Delaware

Die Welt kann erklärt und verändert werden! Wer Inszenierungen von Heinz-Uwe Haus kennt, erlebt, wie diese Sicht gemeinhin dem Regisseur Ausdrucksmöglichkeiten schafft, den Schauspielern Haltung gibt und in den Vorgängen das Zeitgemäße bloßlegt. Für die Beschäftigung mit Brechts Theatertexten ist solcher Optimismus bekanntlich unabdingbar. Da kann das sogenannte Regietheater noch so mit erloschenem Verstand über die Rampe langen und mit Märtyrergeste Brecht als »Ideologieschleuder« und »Verfremdungszirkus« von sich weisen und seine »Ekel-Stunts« als »Methoden der Collage, des intertextuellen Spiels, des Samplings« verkünden, wie – wieder einmal – jüngst in einem Beitrag in Theater Heute (Das Manifest des Kritikers, 1/2007).
Dem Berliner Regisseur war früher und ist auch heute eine solche Debatte suspekt, weil er dem Theater nichts als »Verführerbunker«, aber alles als »Dialog« abgewinnen will. Seine Inszenierung von Leben des Galileo Galilei im Hartshorn Theater an der Universität Delaware, ist ein solches Unterfangen, das alle Beteiligten, Schauspieler wie Zuschauer, in die Entwicklung der Fabel und ihre Erzählweise einbezieht.
Die Aufführung macht erfahrbar, wie dialektisches Denken die Veränderbarkeit der Bestehenden erfassen und abbilden kann: Galileis »Dialoge« sind scheinbar eine Widerlegung, tatsächlich jedoch eine verschleierte Rechtfertigung des Kopernikus. Louis Galando als Galilei ist Scharlatan und Aufrührer zugleich! Ein Mann von gestern, der wir selber sind. Wichtigster theatralischer Kunstgriff der Inszenierung ist, daß die Karnevalsszene die Vorstellung sowohl eröffnet als auch beendet. Damit wird ohne Aufhebens das »Volk« zum eigentlichen Helden, wie es einst von Walter Benjamin gefordert wurde.
Galileis neue Weltsicht fand einst große Verbreitung, weil der Physiker sie in der Volkssprache, in Italienisch, und nicht im Gelehrtenlatein verfaßt hatte. Und das Volk machte sie sich zu eigen und zog durchaus revolutionäre Konsequenzen im Karneval 1632 – noch bevor die Zensur zugreifen konnte: »Aufstund der Doktor Galilei… / Und sprach zur Sonn: Bleib stehn! / Es soll jetzt die creation dei / Mal andersrum sich drehn. / Jetzt soll sich mal die Herrin, he! / Um ihre Dienstmagd drehn.« Mit diesem dramaturgisch-philosophischen Zugriff identifiziert und verkörpert sich ein Ensemble, in dem jedes Mitglied nicht nur mehrere Rollen spielt, singt oder tanzt, sondern auch für den Grundgestus der Aufführung in Kommentaren und Chorpartien einsteht.
Die Aufführung ist das Resultat eines dreijährigen Prozesses, der damit begann, daß Heinz-Uwe Haus über Workshops die Mitglieder des Professionellen Theatertrainingsprogramms (PTTP) mit Brechts Theaterauffassung und -techniken vertraut machte. Zugleich wurden die Darsteller ermutigt, ungenutzte Begabungen zum »Fabulieren mit dem Stück« (Haus) heranzuziehen. William Elsman zum Beispiel hatte vor seiner Tätigkeit als Schauspieler als Schlagzeuger in einer Rockgruppe gespielt. »Warum nicht ihn mit einer Trommel ausgerüstet zum ›Anführer des Volkes‹ (und Ansager der Szenen) zu machen?« (Haus). So gesellt sich hier gleich noch neben die von Brecht vorgesehenen Pamphletisten und Balladensänger ein weiterer Verbreiter der aufrührerischen Lehren! Der gleiche Darsteller spielt auch die Rolle des Kardinal Barberini, der im zweiten Akt als Papst den Thron besteigt. Seine Einkleidung durch vier Mönche während der Audienz für den Kardinal Inquisitor war auch in dieser Inszenierung ein Höhepunkt.
Wie Galileis alter Freund und Förderer allmählich zum Verteidiger der Obrigkeit wider besseres Wissen wird, sieht sich heute wie ein Kurs in political correctness an. Wenn Elsman, jetzt mit allen Gewändern des Papstes bekleidet, die Stufen hinauf zu einer hohen Plattform schreitet und von dort in aller Öffentlichkeit dem Inquisitor freie Hand einräumt: »Das Alleräußerste ist, daß man ihm die Instrumente zeigt«, dann aber »aus der Rolle aussteigt« und im Handumdrehen zur Trommel greift und für die nächste Szene die Folter Galileis durch die Inquisition ankündigt, ist der Beifall des Publikums stark und verständig. Haus: »Verfremdungseffekte markieren den roten Faden in einer Geschichte«.
Von den vielen unerwarteten, oft poetischen Verfremdungseffekten hier nur noch ein Beispiel: In der dritten Szene, in der Galilei mit seinem Fernrohr die Hypothese von Kopernikus beweist, wird das Theater plötzlich dunkel, und man sieht den Sternenhimmel an der Decke über der Bühne. Dem Theaterraum erschließt sich der Kosmos. (Das erinnerte an Nerudas Murieta, dessen Held sich auch der Himmel öffnete, weil sein Befreiungkampf universell ist und allen zum Fortschritt gereichen wird. Haus’ Inszenierung 1973 in Bautzen ist heute schon Legende.)
Der Grundgestus der Aufführung wird durch den für die Aufführung geschaffenen Raum bestimmt, das heißt durch den Umstand, daß dieser insgesamt als »öffentlicher« Spielort verwendet wird. Das Harthhorne Theater ist »entkernt«, weder Bühne noch Zuschauerraum existieren. Hingegen reihen sich auf den zwei Längsseiten amphitheatralisch Zuschauerplätze. Dazwischen ordnet der Bühnenbildner Bill Browning eine Arena als Hauptspielfläche an (etwa sechs mal achtzehn Meter weit aus schweren Holzbrettern). An ihren Enden befinden sich Plattformen, die durch mobile Treppen mit dieser verbunden werden können. (Jessners Treppe und Kortners Richard kommen hier ins Spiel.)
Unter der einen Plattform ist das kleine Orchester (Klavier, Flöte, Klarinette) plaziert – wo es unter der Leitung von Linda Henderson meisterlich mit Eislers Musik die szenischen Vorgänge begleitet. Auch hinter den Zuschauerrängen wird auf Spielflächen unterschiedlicher Höhe und Größe agiert. Die fahrbaren Treppen sind die »Hauptrequisiten«, in kürzester Zeit die Spielorte zu verändern und optisch expressive und erzählerische Arrangements zu schaffen. »Das Ensemble muß die Geschichte im Griff haben, die es erzählen will« (Haus).
Nichts an dieser Aufführungsästhetik ist Ideologie, alles wird auf die Kunst gesetzt, die Wahrheit ans Licht bringen zu können. »Sie ist die Verweigerung, sich in der vermeintlichen Ausweglosigkiet einer ›trash existence‹ zu sielen«, bekennt der Regisseur in einer Diskussion des Ensembles mit dem Publikum nach der Premiere. Heinz-Uwe Haus: »Das Publikum hat sich die Orchestra geschaffen, um sich seiner Geschichte zu stellen. Es macht sich im Theater mündig«.