Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 25. Juni 2007, Heft 13

Vierzig schlimme Jahre

von Uri Avnery, Tel Aviv

Ruhe kam über die Müden / und Entspannung über die Arbeiter / Bleiche Nacht bedeckt / die Felder im Jesreeltal / Unten der Tau / und oben der Mond / vom Kibbuz Bet Alfa bis Moshav Nahalal … So sangen wir, als wir jung waren. Jetzt ist es ein Fernseh-Nostalgieprogramm: Junge Leute aus den Fünfzigern singen die Lieder der Pioniere.
Die Gedanken gehen zurück. Wer waren die Pioniere, die als erste diese Lieder sangen? Sie kamen aus reichen Häusern Petersburgs, aus den Schtetl Galiziens, waren Söhne und Töchter von Universitätsprofessoren in Deutschland. Sie hätten nach Amerika auswandern können, wie es die meisten der Emigranten damals taten. Sie waren aber von einem fernen Land im Orient angezogen worden – zu einem großen Abenteuer. Sie lebten in elender Armut, verrichteten unter glühender Sonne, die sich nicht gewohnt waren, Schwerstarbeit, und träumten von einer vollendeten menschlichen Gesellschaft.
Sie waren wirkliche Idealisten. Sie nahmen gar nicht wahr, daß sie dabei waren, ein anderes Volk zu verletzen. Die Araber waren für sie ein Teil der romantischen Landschaft. Sie glaubten in aller Unschuld, sie brächten allen Einwohnern des Landes Segen und Fortschritt.
Heute, vier, fünf Generationen später, stehen sie ganz anders da. Ihre Unschuld ist vergessen. Für viele sieht die wie reine Heuchelei aus, ein Vorwand für Landraub und Unterdrückung. Das ist eine der Folgen von vierzig Jahren Besatzung. Die jetzigen Siedler behaupten, die Nachfolger jener Pioniere der zwanziger und dreißiger Jahre zu sein.
Wenn wir all den Schaden zusammenaddieren, den die Besatzung uns zugefügt hat – ja, auch uns und nicht nur den direkten Opfern, den Einwohnern der besetzten Gebiete – sollten wir nicht vergessen: Die Besatzung vergiftet die nationale Erinnerung. Sie beschmutzt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit – und zwar nicht nur in den Augen der Welt, sondern auch in unseren eigenen Augen.
Es ist schon genug, was die Besatzung der jüdischen Religion angetan hat. In meiner Kindheit wurde mich gelehrt, daß das Judentum eine humane Religion sei, »ein Licht unter den Völkern«. Judentum bedeutet, Gewalt abzulehnen, die geistigen Kräfte den körperlichen vorzuziehen, einen Feind zum Freund zu machen. Einem Juden ist es erlaubt, sich selbst zu verteidigen – »Wenn jemand auf dich zukommt, um dich zu töten, dann töte ihn zuerst« – so steht es im Talmud. Aber nicht, weil er Gewalt liebt und von der Macht berauscht ist.
Was ist davon geblieben? Besorgte Freunde sandten mir vor kurzem eine E-Mail mit einigen haarsträubenden Zitaten aus einem Statement von Rabbiner Mordechai Eliyahu, dem früheren sephardischen Oberrabbiner Israels und heutigen geistigen Führer der Siedler und des gesamten religiös-zionistischen Lagers. In einem Brief an den Ministerpräsidenten urteilte der Rabbiner, daß es unzulässig sei, Mitleid mit der zivilen Bevölkerung von Gaza zu haben, wenn sie israelische Soldaten gefährde. Sein Sohn Shmuel interpretierte diese Verfügung im Auftrag seines Vaters: Wenn das Töten von hundert Arabern nicht ausreiche, um den Beschuß mit Kassam-Raketen zu beenden, dann müßten tausend getötet werden. Und wenn dies nicht genüge, dann zehntausend und hunderttausend oder gar eine Million. All dies, um die Kassams zu stoppen, mit denen in all den Jahren kaum ein Dutzend Juden getötet wurde.
Welche Verbindung gibt es zwischen dieser »religiösen« Einstellung und dem Gott, der in Genesis 18 versprochen hat, Sodom nicht zu zerstören, wenn in ihm nur zehn Gerechte gefunden werden? Welchen Unterschied gibt es zwischen dieser Haltung und der Nazi-Methode, zehn Geiseln für jeden vom Widerstand getöteten deutschen Soldaten zu erschießen?
Die Verfügung des Rabbiners rief keine Reaktion hervor. Es gab keinen Aufschrei, weder von seinen Anhängern noch in der Öffentlichkeit. Die Zahl der Rabbiner, die öffentlich solche Methoden unterstützen, geht in die Hunderte. Die meisten kommen aus den Siedlungen. Dies ist eine »religiöse« Ansicht, die in der vergifteten Atmosphäre der Besatzung gedeihen konnte, eine Besatzungsreligion. Sie bringt über die ganze jüdische Religion der Gegenwart und Vergangenheit Schande. Kein Wunder, daß eine Person mit starkem religiösen Bewußtsein, Avraham Burg, der frühere Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency, sich in dieser Woche vom Zionismus losgesagt hat und forderte, die Bezeichnung Israels als »Jüdischen Staat« aufzugeben.
Der Hinweis, daß die Besatzung die israelische Armee zerstört, ist nicht neu. Eine Armee kann ihre Aufgabe, den Staat gegen potentielle Feinde zu verteidigen, nicht mehr erfüllen, wenn sie jahrzehntelang als Kolonialpolizei beschäftigt ist. Man kann Todesschwadronen attraktive Namen verpassen – Kommando Mango oder Einheit Pfirsich – doch bleiben sie, was sie sind: ein Instrument brutalen Mordens und der Unterdrückung.
Ein Offizier, der heute eine Aktion einer Undercovereinheit in der Altstadt von Nablus – den Mord an einem »ranghohen Militanten« im Mafiastil plant – wird anderntags nicht in der Lage sein, ein Panzerbataillon gegen einen raffinierten Feind zu führen. Eine Armee, die auf Steinewerfer schießt, Kinder in den Gassen des Flüchtlingslagers Balata verfolgt oder eine Ein-Tonnen-Bombe auf Wohngebäude wirft, kann nicht über Nacht zu einer wirksamen Militärmacht auf einem modernen Schlachtfeld werden. Man muß gar nicht den Vinograd-Bericht gelesen haben. Es genügt, die Kommandeure von 1967 – Leute wie Yitzhak Rabin, Israel Tal, Ezer Weizman, Dado Elazar und Matti Peled – mit den Leuten von heute zu vergleichen. Nach vierzig Jahren verachtenswürdigem Tun gegen eine wehrlose Bevölkerung zieht die Armee keine jungen Leute mehr an, die selbständig denken können, Leute, die wagen und die improvisieren können. Sie zieht die Mittelmäßigen der Mittelmäßigen an.
Im Sechstage-Krieg hatten wir eine kleine, hochentwickelte Armee, die den Staat innerhalb der Grünen Linie verteidigte, die von Abba Eban mit »Auschwitzgrenze« beschrieben worden war. Diese Armee benötigte kaum sechs Tage, um vier gegnerische Armeen zu besiegen. Seitdem ist das Gebiet größer geworden und hat ideale »Sicherheitsgrenzen« erreicht, die Armee ist viel größer geworden und ihr Budget viel aufgeblasener. Die verheerenden Ergebnisse sahen wir im zweiten Libanonkrieg. Vom militärischen Gesichtspunkt aus ist die Besatzung zu einer ernsten Bedrohung der Sicherheit des Staates geworden.
Der Oberste Gerichtshof ist von alldem nicht verschont geblieben. Früher zeigten Meinungsumfragen, daß die Öffentlichkeit die Knesset verhöhnte und die Regierung verspottete, aber den Obersten G erichtshof als eine Bastion der Demokratie und Quelle des Stolzes respektierte. Jetzt wird offensichtlich, daß es dafür keine solide Basis gab. Denn in dem Augenblick, als der Oberste Richter Aharon Barak sich aus dem Gerichtswesen zurückzog, versank das gesamte juristische System in einem Morast aus Intrigen, gegenseitigen Anklagen und sogar übler Nachrede. Nicht nur in anonymen Internetblogs, sondern auch in den Statements des neuen Justizministers, der von einem von persönlichen Korruptionsskandalen verfolgten Ministerpräsidenten ernannt wurde.
Wie konnte das geschehen? Seit vielen Jahren hat der Gerichtshof in einer Welt der Illusionen gelebt. Die Richter verschlossen ihre Augen vor ihren eigenen Taten. Während sie glaubten, eine Festung des Liberalismus und der Demokratie zu sein, erlaubten sie außergerichtliche Todesstrafen. Sie verschlossen ihre Augen, während Folter zur Routine wurde. Sie erschufen ohne Ende sophistische Argumente, um zu nachzuweisen, daß aus Sicherheitsgründen die monströse Mauer notwendig sei, und ignorierten dabei die offensichtliche Tatsache, daß es deren Hauptziel ist, weiteres Land für die Siedlungen zu grabschen. Als der Gerichtshof in Den Haag seine unwiderlegbare Meinung äußerte, daß die Mauer das Völkerrecht und die verschiedenen Konventionen verletze, die auch Israel unterzeichnet hat, stimmte unser Oberster Gerichtshof nicht damit überein. Ein Gericht, das sich auf einem Gebiet selbst belügt, kann nicht auf einem anderen seine Integrität aufrechterhalten. Die »Bastion der Demokratie« wurde untergraben und fällt nun völlig in sich zusammen.
In der Zwischenzeit ist auch das Gesetzbuch mit rassistischer Gesetzgebung besudelt worden: angefangen mit dem Gesetz, das es israelischen Bürgern verunmöglicht, mit ihren palästinensischen Ehepartnern in Israel zu leben, bis zu jenem Erlaß, der soeben in erster Abstimmung die Zustimmung der Knesset erhalten hat, und der es mit den Stimmen von nur achtzig Knessetmitgliedern gestattet, jedes Mitglied aus der Knesset auszuschließen, das es wagen sollte, Kritik an einem Minister des Kabinetts oder an einem hochrangigen Armeeangehörigen zu äußern, und zwar ganz gleich, ob dies im Parlament oder außerhalb desselben geschieht.
Es kann nicht verleugnet werden: Vierzig Jahre Besatzung haben den Staat Israel bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das stimmt für alle Lebensbereiche. Alle sind davon betroffen worden. Die 18jährigen, die von anständigen Eltern als Menschen mit moralischen Werten erzogen worden waren, werden zum Militär eingezogen und dort zu einem Teil der brutalen Subkultur ihrer Einheiten. Sie werden indoktriniert, daß jeder brutale Akt gegen Araber gerechtfertigt sei. Nur wenige und besondere Persönlichkeiten sind in der Lage, sich dem Druck zu entziehen. Nach drei Jahren Militärdienst verläßt die Mehrheit die Armee als harte Männer mit abgestumpften Gefühlen. Die Brutalität in unsern Straßen, das routinemäßige Töten rund um unsere Diskotheken, die Verbreitung von Vergewaltigungen und die Gewalt innerhalb der Familien – all dies wurde zweifelsohne durch die tägliche Realität der Besatzung beeinflußt. Schließlich wird diese ja durch dieselben Personen realisiert.
Ein Polizist, der nach Hebron und an den Hawara-Kontrollpunkt gesandt wird, und der die Bewohner dort wie minderwertige Geschöpfe behandelt, der wie ein Sadist handelt oder den Sadismus seiner Kameraden duldet – wird er zu einem anderen Menschen, wenn er nach Tel Aviv, Haifa oder Shfa’ram zurückversetzt wird? Wird er am nächsten Morgen aufwachen und sich – wunderbarerweise – in einen liebevollen Mitmenschen in einer demokratischen Gesellschaft verwandeln?
Die Sicherheitsdienste, die Polizei und die Armee lügen seit Jahren über die Dinge, die sich in den besetzten Gebieten ereignen. Das Lügen ist unterdessen Routine. Aber wenn man sich in einem Sektor ans Lügen gewöhnt hat, kann die Verlogenheit woanders nicht aufgehalten werden. Die Lügner der Armee, der Polizei und der anderen Dienste haben sich daran gewöhnt, auch in anderen Angelegenheiten zu lügen. In den besetzten Gebieten herrscht die Korruption. Angehörige der Militärverwaltung legen die Uniform ab und machen zweifelhafte Geschäfte. Kapitalistische Raubritter profitieren davon. Natürlich ist dies nicht die einzige Quelle der Korruption, die sich zu einem Fluch unseres Staates entwikkelt hat; aber es handelt sich um einen wesentlichen Faktor.
Die Besatzung schafft Fäulnis, die durch alle Poren des nationalen Organismus dringt. Nach vierzig Jahren gibt es wenig Ähnlichkeit zwischen dem Staat Israel, wie er heute ist, und dem, wie ihn sich die Gründer in ihrer Phantasie vorgestellt haben: ein Modell sozialer Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Friedens. Die Gründer träumten von einer modernen, aufgeklärten, säkularen, liberalen, sozial fortschrittlichen Gesellschaft mit blühender Wirtschaft, die allen zugute kommt. Die Realität, wie wir sie kennen, sieht total anders aus.
Es stimmt wohl, daß man der Besatzung nicht alle Schuld zuschieben kann. Auch vor 1967 war der Staat längst nicht perfekt. Aber die Gesellschaft hatte das Gefühl, daß dies ein vorübergehender Zustand wäre; daß die Dinge repariert und verbessert werden könnten. Als die israelische Republik zu einem israelischen Empire wurde, begann die dramatische Veränderung.
Am Ende des Sechs-Tage-Kriegs salutierte uns fast die ganze Welt. Der kleine tapfere David hatte gegen Goliath gesiegt. Heute werden wir als der gemeine, brutale Goliath angesehen. Der gegen Israel angekündigte Boykott verschiedener ausländischer Organisationen, sollte ein Warnlicht aufleuchten lassen. In der Unabhängigkeitserklärung der USA schrieb Thomas Jefferson, daß sich jede Nation mit einer »geziemenden Achtung vor den Meinungen des Menschengeschlechts« verhalten solle. Das war nicht nur eine Sache der Moral, sondern auch des praktischen gesunden Menschenverstandes. Eine von unserer Seite aufrechterhaltene Besatzung, die das Völkerrecht verletzt, spuckt den »Meinungen des Menschengeschlechts« ins Gesicht.
Von Israel erwartet man anderes als vom Kongo und Sudan. Aber seit Jahren sehen Hunderte von Millionen Menschen fast täglich mit an, wie Israel in der Gestalt von bis an die Zähne bewaffneten Besatzungssoldaten eine hilflose Bevölkerung brutal mißhandelt. Die aufgestaute Wirkung dieser Bilder wird nun deutlich.
Man kann der Meinung der Weltöffentlichkeit mit Verachtung begegnen – im Sinne von Stalins Frage: »Wieviel Divisionen hat der Papst?« Doch das ist dumm. Die internationale Meinung kann auf tausend verschiedene Weisen zum Ausdruck kommen. Sie beeinflußt die Politik der Regierungen und der zivilen Gesellschaft. Die Versuche eines Boykotts sind nur ein Symptom für Kommendes.
Aber jenseits all der schlimmen Dinge, die die Besatzung über Israel gebracht hat – innerhalb und außerhalb – gibt es etwas, das uns alle betrifft. Jeder Mensch möchte stolz auf sein Land sein. Die Besatzung nimmt uns diesen Stolz.
Am vierzigsten Jahrestag der Besatzung von Ost-Jerusalem wollte ein ausländischer Fernsehsender mit mir im muslimischen Viertel der Altstadt ein Interview machen. Wir gingen in die Via Dolorosa, den sogenannten Kreuzweg. Die Straße war fast leer. Die Geschäftsleute von Läden mit Antiquitäten, wertvollen Teppichen und Souvenirs standen mit verzweifelten Gesichtern auf ihren Türschwellen und versuchten, uns hineinzulocken.
Von Zeit zu Zeit ging eine kleine Gruppe Touristen vorbei. Jede Gruppe wurde von vier Sicherheitsbeamten in weißen Uniformen begleitet, zwei vor der Gruppe und zwei am Ende, und jeder hielt eine geladene Pistole schußbereit in der Hand. So geht man heute durch die Straße.
Das ist die Realität des »vereinigten und unteilbaren Jerusalems, der ewigen Hauptstadt Israels« – so der offizielle Slogan vierzig Jahre nach seiner »Befreiung«.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert; von der Redaktion gekürzt