Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Das 30-Prozent-Mißverständnis

von Wolfgang Sabath

Es gibt Mißverständnisse, die wiederholen sich. Manche wiederholen sich oft. Und wer einigermaßen alle Sinne beieinander hat, kommt vielleicht recht bald darauf, daß es zwecklos ist, dagegen anzurennen. Doch wer hat das schon: alles beieinander? Zu den sich turnusmäßig wiederholenden Mißverständnissen (gegen die dann, selbstverständlich, auch in diesem Blättchen turnusmäßig angeschrieben wird …) gehört die Politikerschelte und der Politikergnatz, wenn das Volk Wahlabstinenz übt. Letztens waren die Wahlbürger Sachsen-Anhalts wieder Mode. Zugegeben: 36,5 Prozent Wahlbeteiligung sind nun wahrlich kein Ruhmesblatt. Es fragt sich nur, für wen nicht?
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse lief (erwartungsgemäß!) die Galle über, und er kam damit nach langer Zeit endlich wieder einmal in alle Zeitungen, und zwar deutschlandweit. Thierse befand: »Es ist auch Desinteresse, Faulheit und der fehlende Glaube, daß man mit seiner Wählerstimme etwas erreichen kann.« Und – wie schön, daß es sie einmal gegeben hat – ist natürlich die DDR auch irgendwie an dieser Misere beteiligt; Thierse laut Netzeitung: Besonders im Osten sei mangelndes Vertrauen in die Demokratie zu beobachten. »Da mögen DDR-Prägungen nachwirken.« Daß in Sachsen-Anhalt bei der Beteiligung der niedrigste Wert bei Kommunalwahlen in der Bundesrepublik überhaupt erreicht wurde, sei »bestürzend«. Da entstünde eine »Zuschauerdemokratie. Die Menschen meinten, nicht mehr mittun zu müssen.« Sie schalteten »den Fernseher ein« und erlebten Politik als Zuschauer. Selbst einem der pfiffigsten, linksgepolten Hauptstadt-Karikaturisten, der so gut ist, daß sein linker Blick und sein Strich sogar vom wahrlich sehr unlinken Berliner Tagesspiegel akzeptiert wird, fiel zu Sachsen-Anhalt nicht mehr als eine »Ossi-Bashing«-Karikatur ein: eine trist, grau und vergrämt dreinschauende Gruppe sachsen-anhaltischer Nichtwähler, die trotzig skandiert: »Wir sind das Volk!« Was für ein veritables Mißverständnis!
Wer auf der Autobahn die Grenze nach Sachsen-Anhalt überquert, wird mit großen Tafeln begrüßt: Willkomen im Land der Frühaufsteher. Weiß der Teufel, welche Werbeagentur da ihren Schnitt gemacht und welcher Lobbyist der Landesregierung diesen Schwachsinn übergeholfen hat. Jedes Mal fange ich an zu grübeln, denn der Slogan will sich mir einfach nicht erschließen. Land der Frühaufsteher? Angesichts der dortigen Arbeitslosigkeit doch wohl eher ein Land, in dem viele Bürger nicht früh rausmüssen/rausdürfen. Irgendwann habe ich es dann aufgegeben, nach dem Sinn zu suchen. Zumal ich noch andere Kandidaten auf meiner Unverständnisliste hatte, zum Beispiel einen Affen, der mir im Fernsehen immer Unterwäsche einreden will, oder ein Stromkonzern, der fortwährend infantil maskierte Figuren stolpern und hinfallen läßt.
Aber nach dieser letzten und weithin als so peinlich empfundenen niedrigen Wahlbeteiligung haben sich mir die wahlmüden »Frühaufsteher« enträtselt: Sie sind die wirklich politisch denkenden Kräfte in diesem Bundesland.
Selbst Wolfgang Thierse würde vermutlich nicht auf die Idee kommen, einer Wahlbeteiligung einen Wert an sich zuzuerkennen. Es bleibt die Frage zu beantworten: Warum sollen die Leute an einer Kommunalwahl teilnehmen? Darauf gibt es keine befriedigende Antwort mehr.
Denn die Kommunen haben kaum etwas zu bestimmen, haben fast keinerlei Spielraum für Entscheidungen. Wer verfolgt hat, wie in den Ländern – auch und gerade in Sachsen-Anhalt – den Kommunen die Gemeindereform oktroyiert wurde, wer weiß, wie die Dörfler infolge der Straßenbaugesetze finanziell bluten müssen, wer also als Bürger tagtäglich erlebt, wie wenig er zu bestellen hat und wie sein Bürgermeister zum bloßen Befehls- beziehungsweise Beschlußempfänger degradiert wird – warum soll der denn wählen gehen? »Die machen doch sowieso, was sie wollen.« In diesem Sinne sind Sachsen-Anhalts Nichtwähler echte Frühaufsteher, weil sie eher als andere mitbekommen haben, was Sache ist. Sie sind es, die wirklich politisch denken.
Na, gut, politisch Denken ist vielleicht übertrieben. Aber politisch Handeln tun sie auf jeden Fall.
Zugegeben: Das stand so oder ähnlich bei ähnlichen Gelegenheiten und von unterschiedlichen Autoren schon mehrmals in diesem Organ hier zu lesen. Aber manche Mißverständnisse wiederholen sich.