Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Deutschleid erwacht

von Martin Nicklaus

Nachdem – im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg – die Leiden Deutscher unter alliierten Bombenangriffen und bei der Vertreibung ausgiebig in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt, somit Wirkungen konsequent ihrer Ursachen beraubt wurden, schlug die Dreistigkeit nun eine neue Bresche. Die Geschichte spielt in einem Bundesland, das bereits zwei Nazis regierten und dessen Hauptstadt eine Halle ziert, die nach einem dritten benannt wurde, auf daß er der dorthin zu Rock- und Popkonzerten scharenweise pilgernden Jugend als Vorbild diene und verdeutliche, in welcher Tradition sich das Land sieht.
Der aktuelle Ministerpräsident, bekannt durch seinen Widerstand gegen die Wehrmachtsausstellung und dafür, das Deutschlandlied gerne ganz von Anfang an zu singen, billigte nun bei einem Staatsakt einem Funktionär des NS-Systems zu, »die schreckliche erste Hälfte des letzten Jahrhunderts«, wie er die Zeit des Dritten Reiches verklausulierte, »erlitten« zu haben. Da tanzen Geschichtsklitterung und Verhöhnung der von den Nationalsozialisten Verfolgten miteinander einen Reigen.
Dabei gäbe das Thema leidende Deutsche eigentlich reichlich Stoff. Großes Leiden herrschte ab 1933: Oppositionelle (Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Studenten und so weiter), Behinderte (»unproduktive Volksgenossen«, »lebensunwertes Leben«), Homosexuelle sowie ganz besonders deutsche Juden waren die Opfer. Für sie wurden spezielle, für Deutschland völlig neuartige Einrichtungen geschaffen, die Konzentrationslager.
Bald schon reichte es den arischen Herrenmenschen nicht mehr, nur den genannten Minderheiten im eigenen Land die Hölle zu bereiten, sie schickten den Nachbarn in nah und fern die Wehrmacht auf den Hals.
Offensichtlich muß es immer wieder gesagt werden: Auf Deutschland fiel am Ende nur zurück (im wahrsten Sinne des Wortes: in Form von Bomben) was von dort in die Welt getragen worden war, die Bombardierung von Städten als Terrorinstrument gegen die Zivilbevölkerung à la Guernica oder Wielun beispielsweise.
Überflüssig auch das Gejammer um die Zerstörung deutscher Kulturgüter wie der Frauenkirche in Dresden. Wieder waren die Deutschen Trendsetter. Als ihr Bombenkrieg gegen England scheiterte, erdachten sie die Aktion Baedeker, bei der gezielt kulturhistorisch bedeutende und unverteidigte Orte aus der Luft zerstört werden sollten. Kriegstechnisch ein Schuß in den Ofen, der die britische Seite statt zu deprimieren nur noch mehr anstachelte.
Warum verweigerten sich die deutschen Eliten – zum Beispiel Stauffenberg, Rommel, Canaris – nicht spätestens, als die Sowjetunion, ihr Waffenbruder gegen Polen (laut Wjatscheslaw Molotow der Bastard des Versailler Vertrages), überfallen wurde? Kein Einwand kam gegen die von vornherein geplanten Verbrechen und Grausamkeiten. Ein jeder Sympathie für die Sowjetunion Unverdächtiger wie Andreas Hillgruber wies nach, daß 1940/41 über drei Millionen Rotarmisten in der Kriegsgefangenschaft ihr Leben verloren; die meisten ließ die Wehrmacht vorsätzlich verhungern.
Sebastian Haffner beschrieb den Überfall auf die UdSSR folgendermaßen: »Was dabei so einzigartig ist, ist die Verbindung von moralischer Verworfenheit mit totaler Instinktlosigkeit. Grausamkeit des Starken gegen den Schwächeren kommt leider alle Tage vor. Aber Grausamkeit – äußerste, hemmungslose, entmenschte Grausamkeit – des Schwächeren gegen den Starken, den es vernünftigerweise aus reinem Selbsterhaltungsinstinkt fürchten müßte –, wo hat es das schon gegeben?«
Wie dagegen die deutschen Herrenmenschen während der Kriegsjahre von den Eroberungen und von der Judenausrottung ganz gut lebten, beschreibt Götz Aly in Hitlers Volksstaat. Die eingezogenen jüdischen Vermögen und Besitzungen sowie die Kriegsbeute wurden unter der »arischen« Bevölkerung verteilt, Sozialleistungen und Volksbestechung gepreßt aus dem Blut ihrer Opfer oder deren Arbeitskraft. Nach Kriegsende zählte man in Deutschland sieben Millionen displaced persons. Ein euphemistischer Ausdruck für slaves, Sklaven, aus aller Herren Länder verschleppt, die in der Wirtschaft, bei öffentlichen Institutionen und in privaten Haushalten hatten knechten müssen.
Und was die Verwüstungen in Deutschland durch den Krieg angeht, wird gern vergessen, daß die Antihitlerkoalition lediglich ausführte, was Hitler eigentlich seinem Volk befohlen hatte. Im März 1945 hatte er den Nerobefehl erlassen, nachdem im Reichsgebiet alles kurz und klein zu schlagen war. Nur verbrannte Erde sollte dem Gegner in die Hände fallen. Eberswalder und Anklamer Bürger bekamen das bei Bombardierungen ihrer Städte durch die deutsche Luftwaffe zu spüren.
Wenn für jene Deutschen, die Hitler bis zum Schluß die Treue hielten, überhaupt die Kategorie Opfer angewendet werden darf, dann im Sinne von Haffner, als letzte Opfer Hitlers. Auch wenn nicht alle den Totalen Krieg herbeigeschrieen hatten – partizipiert am Mordssystem hatten sie allemal. 1945 dann war die Welt zu Gast beim Feinde.
Spätestens nach der Befreiung von Auschwitz durfte kein Deutscher mehr Gnade erwarten, war den Alliierten doch allerspätestens seit dem 27. Januar 1945 klar, gegen was sie da kämpften. Im Reich wiederum war es ohnehin jedem klar; die Studien von Frank Bajohr und Dieter Pohl sowie von Peter Longerich haben das Gerede von der Ahnungslosigkeit über den Judenmord längst als Mär entlarvt. Außerdem muß man dafür gar nicht große Wissenschaft treiben. Hitler selbst hatte 1939 in öffentlicher Rede die Vernichtung der Juden angekündigt.
Trotz Bomben und Flucht gab es in den letzten Wochen des Krieges Elendere, von Deutschen getrieben auf Todesmärschen. Andere Landsleute befaßten sich noch am 20. April 1945 mit dem Erhängen und Verbrennen von zwanzig Kindern, zur Beseitigung von Spuren der an ihnen durchgeführten medizinischen Experimente. Offensichtlich war angesichts anrückender Engländer das Unrechtsbewußtsein geweckt worden. Bald konnte es sich wieder schlafen legen, denn eine größere strafrechtliche Aufarbeitung fand, anders als im geschilderten Fall, nie statt. Teilweise folgte die Rechtssprechung sogar der NS-Logik und rehabilitierte somit reichlich Täter. Gustav Radbruchs Formel vom gesetzlichen Unrecht wurde zurückgedrängt oder teilweise ganz abgelehnt.
Heute wird ein zarter Schleier des Vergessens über die Jahre des bestialischen Austeilens gelegt. Nur noch jene Monate, in denen Deutsche unter den Schlägen der Alliierten etliches einstecken mußten, sollen als historisch relevant gelten. Nicht einmal mehr Nazis waren Nazis, sondern wohl irgendwie in der Opposition, wenn nicht gar im Widerstand. Da dürfen wir gespannt warten, wann ein von Igor Maximytschew einst im Freitag geäußerter Gedanke wahr werden wird: die Bildung von Gerichten zur Ahndung von Verbrechen der Alliierten an Deutschen.