Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Willkommen im Club

von Murat Çakir

Es war die Idee der jungen Löwin, die Bullen anzusprechen:
»Immer wieder jagen wir euch und nehmen uns immer einen
der Schwachen oder Kranken. Aber bei der Jagd passiert es auch,
daß junge und gesunde Mitglieder eurer Herde verletzt werden.
Wir wollen euch einen Vorschlag machen: Gebt uns freiwillig einen
der Euren, der krank oder schwach ist, und wir brauchen
niemanden zu jagen und dabei zu verletzen.«
Es schien ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Immerhin war die Herde
groß und die Kühe kalbten fleißig. Also gingen die Bullen auf diesen
Vorschlag ein und gaben jedes Mal, wenn die Löwen Hunger hatten,
einen der Schwachen. Nach einer Zeit wurde die Herde immer kleiner.
Und eines Tages kamen die Herdenführer zusammen und fragten sich,
wo sie einen Fehler gemacht haben. Ein weiser Bulle sagte daraufhin:
»Als wir ihnen den ersten Schwachen auslieferten.«

Am Morgen des 28. April 2007 meldeten die Ticker, daß Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble angesichts massiver Kritik vorläufig die durch die Geheimdienste betriebene Ausspähung von Computern gestoppt habe. Welch eine weise Entscheidung, sagten manche. Zwar habe die Bundesregierung damit eingestanden, daß die »Dienste« seit 2005 Online-Durchsuchungen durchführten, also die Grundrechte per Dienstanweisung aufgehoben worden waren; aber wen interessiere das noch, da doch die Verfassung schon mehrfach – und zwar sogar mit Vorankündigung – mit den Füßen getreten wurde und nichts passiert sei?
Nun, Heribert Prantl schien das doch ein Dorn im Auge zu sein. In seinem schon von Erhard Crome zitierten Artikel haute der linksliberale Kolumnist der Süddeutschen Zeitung feste drauf und beklagte die »Banalisierung der Grundrechte«: »Innenminister Schäuble habe geschafft, was seinen Vorgängern nie gelungen war: eine Grundsatzdiskussion über die Veränderungen des Rechtssystems in Deutschland. Würden seine Pläne umgesetzt, werde jeder Bürger zum Ausländer im eigenen Land.«
Als nichtgebürtiger Teutone konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: Na denn, willkommen im Club! Denn eigentlich ist an Prantls Kritik nichts Neues. Wer sich den Koalitionsvertrag der CDU/CSU-SPD-Regierung angeschaut hatte, mußte wissen, was die Koalitionäre alles vorhaben. Sie setzen im Inneren auf einen »hart durchgreifenden und handlungsfähigen Staat«, während in den Bereichen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eine »Verschlankung« gefordert wird. Eben, der Staat als Ordnungsmacht zur Durchsetzung der neoliberalen Interessen. Wie ein roter Faden zieht sich die Beschwörung des »internationalen Terrorismus« und einer »konsequenten Sicherheitspolitik« durch den Koalitionsvertrag und belegt, daß die Berliner Republik künftig mit einer noch rigideren und noch einschränkenderen Innen- und Rechtspolitik zu rechnen haben wird. Die Grundrechte werden auf dem Altar eines uferlosen Sicherheitswahns geopfert.
2005 warnte sowohl die gesellschaftliche als auch die politische Linke vor dem, was uns blüht. Die »Nichtteutonen« kümmert es wenig: Sie erleben seit Jahrzehnten das, was nun der Gesamtbevölkerung bevorsteht.
Was Prantl so wütend macht, ist nicht die Tatsache, daß in diesem Land Migranten durch die rechtsfreie Behandlung gläserne Menschen geworden sind und jederzeit illegalisiert werden können, sondern lediglich die Absicht, die deutsche Mehrheitsgesellschaft genauso zu behandeln.
Doch im Grunde genommen spricht Schäuble nur das aus, was die gesellschaftliche Mitte auch denkt. Eine Gesellschaft, die mehrheitlich davon überzeugt ist, daß »Nichtteutonen« ein Bedrohungspotential darstellen, und die deshalb bereit ist, für die »Sicherheit« auf Freiheiten und Grundrechte zu verzichten, hat nichts dagegen, wenn im Ausland gefoltert wird und rechtsstaatliche Prinzipien für »Nichtteutonen« aufgehoben sind. Problematisch wird es für sie nur, wenn der »Präventivstaat« sie zum Objekt des Sicherheitswahns macht.
Sicher hat Prantl recht: Der Rechtsstaat wird verändert. Das ist Teil des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft. Es ist allerdings – zurückhaltend formuliert – nicht sehr wahrscheinlich, daß diejenigen, die gegen die Verwandlung anderer in Rechtlose nichts unternommen haben, in der Lage sein werden, die Beseitigung des Rechts zu verhindern.
Kurzum: Solange Deutsche im eigenen Land noch nicht vollständig wie Ausländer behandelt werden, werden wir zuschauen müssen, wie rechtsstaatliche Prinzipien Schritt für Schritt aufgehoben werden. Wie immer werden die Migranten, als Bodensatz der Unterschicht, die Rechnung zu zahlen haben. Wird es nicht langsam Zeit zu fragen, wann wir den eigentlichen Fehler gemacht haben?