Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 30. April 2007, Heft 9

Ohne Grenzen

von Uri Avnery, Tel Aviv

Es ist unglaublich! In den palästinensischen Schulbüchern gibt es nicht die Spur einer Grünen Linie! Sie erkennen die Existenz Israels nicht einmal in den Grenzen von 1967 an! Sie sagen, »zionistische Banden« haben das Land von den Arabern gestohlen. So vergiften sie den Verstand ihrer Kinder!
Diese grauenhaften Enthüllungen wurden kürzlich veröffentlicht. Die Schlußfolgerung ist selbstverständlich: Die palästinensische Behörde, die für die Schulbücher verantwortlich ist, kann kein Partner bei Friedensverhandlungen sein. Es ist – wieder einmal – völlig klar: Die palästinensischen Schulbücher predigen Haß gegen Israel.
Wie sehen nun unsere Schulbücher aus? Erscheint denn in unseren Büchern die Grüne Linie? Erkennen sie die Rechte der Palästinenser an? Lehren sie Nächstenliebe für das palästinensische Volk – oder auch nur die Anerkennung des palästinensischen Volkes – oder Respekt für die Araber im allgemeinen, oder lehren sie Grundkenntnisse über den Islam?
Vom Kindergarten bis zum Abitur lernen die israelischen Schüler nicht, daß die Araber überhaupt ein Recht auf irgendeinen Teil dieses Landes hier haben. Im Gegenteil – es ist klar, daß das Land uns allein gehört, daß Gott es uns persönlich gegeben hat, daß wir tatsächlich von den Römern nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 vertrieben worden sind – ein Mythos! –, daß wir aber mit Beginn der zionistischen Bewegung zurückgekehrt seien. Wenn der jüdisch-israelische Schüler aus der pädagogischen Mühle entlassen wird, »weiß« er, daß die Araber ein primitives Volk mit einer mörderischen Religion und einer erbärmlichen Kultur sind.
Ein arabisches Kind sieht im Fernsehen, wie eine alte Frau über die Zerstörung ihres Hauses jammert. Es sieht an den Hauswänden die Fotos der heroischen Märtyrer, Söhne des Stadtviertels, die ihr Leben für ihr Volk und ihr Land geopfert haben. Es hört, was mit seinem Cousin geschehen ist, der von den bösen Juden ermordet wurde. Er hört von seinem Vater, daß er kein Fleisch und keine Eier mehr kaufen kann, weil die Juden ihm nicht zu arbeiten erlauben. Die Mutter erzählt von den Großeltern, die seit sechzig Jahren in einem elenden Flüchtlingslager im Libanon schmachten. Es weiß, daß seine Familie aus ihrem Dorf vertrieben wurde, das heute zu Israel gehört und wo heute Juden wohnen.
Und auf der jüdischen Seite? Schon im frühesten Alter sieht ein Kind im Fernsehen Bilder von Selbstmordanschlägen, von zerfetzten Leichenteilen. Die Verletzten werden in Ambulanzen weggebracht, deren Sirenen das Blut gefrieren lassen. Es hört, daß die Nazis Mutters ganze Familie in Polen umgebracht haben – und in seinem Bewußtsein verschmelzen Nazis mit Arabern.
Jeden Tag hört es in den Nachrichten von den schlimmen Dingen, die die Araber tun, daß sie den Staat zerstören und uns ins Meer werfen wollen. Es weiß, daß die Araber seinen Bruder, den Soldaten, völlig ohne Grund umbringen wollen – eben weil sie Mörder sind. Nichts erfährt es über das Leben in den »Gebieten«, die nur wenige Kilometer entfernt sind. Bis es zum Militär einberufen wird, sind die einzigen Araber, die es trifft, israelische Araber, die niedrige Arbeit verrichten. Wenn er zur Armee kommt, sieht er sie nur durch das Zielfernrohr seines Gewehrs, jeder ist dann ein potentieller »Terrorist«.
Damit eine Veränderung in den Schulbüchern Sinn hat, muß sich zuerst die Realität vor Ort verändern. Das heißt nicht, daß die Schulbücher keine Bedeutung haben. Sie sollten nicht unterschätzt werden. Ich erinnere mich, daß ich in den späten Sechzigern in einem Kibbuz in einem Vortrag über die Notwendigkeit der Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels sprach. Ich wies damals darauf hin, daß es Zehntausende von Klassenzimmern zwischen Marokko und dem Irak gibt und in jedem eine Landkarte hängt. Auf all diesen Landkarten stand anstelle von Israel »besetztes Palästina«, oder diese Stelle wurde einfach leer gelassen. Alles, was wir brauchen, ist, daß der Name Israel auf all diesen tausenden von Landkarten eingezeichnet ist, sagte ich damals. Seitdem sind vierzig Jahre vergangen, und der Name »Israel« erscheint nicht in den palästinensischen Schulbüchern und vermutlich auch nicht auf den Landkarten – von Marokko bis zum Irak. Und der Name Palästina erscheint natürlich nicht auf den israelischen Schulkarten. Erst wenn der junge Israeli in die Armee kommt, sieht er eine Karte mit den »Gebieten« mit dem verrückten Wirrwarr der Zonen A, B und C, den Siedlungsblöcken und den Apartheidstraßen.
Ich wiederhole, was ich damals sagte: Es muß das Ziel sein, daß das Kind in Ramallah vor seinen Augen eine Landkarte an der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Israel eingezeichnet ist. Und daß das Kind in Rishon-le-Zion vor seinen Augen eine Landkarte an der Wand seines Klassenzimmers sieht, auf der der Staat Palästina eingezeichnet ist. Nicht durch Zwang, sondern durch ein Abkommen. Das ist natürlich unmöglich, solange Israel keine Grenzen hat. Wie kann man auf einer Karte einen Staat einzeichnen, der sich vom ersten Tage an bewußt und unnachgiebig weigerte, seine Grenzen zu definieren. Können wir wirklich vom palästinensischen Ministerium für Bildung und Erziehung erwarten, daß es eine Karte veröffentlicht, in dem alle Gebiete Palästinas innerhalb Israels liegen?
Und auf der andern Seite: Wie kann man auf einer Landkarte »Palästina« markieren, wenn es keinen palästinensischen Staat gibt? Sogar die meisten jener Politiker, die sich – wenigstens pro forma – zu einer »Zwei-Staaten-Lösung« bekennen, vermeiden klar zu sagen, wo denn die Grenze zwischen den beiden Staaten verlaufen soll.
Zipi Livni, die Außenministerin, ist absolut gegen die angekündigte Absicht ihrer Kollegin, der Bildungsministerin Yuli Tamir, die Grüne Linie zu markieren, damit sie nicht als Grenze angesehen wird. Frieden bedeutet Grenze, eine durch ein Abkommen festgelegte Grenze. Ohne eine Grenze kann es keinen Frieden geben. Und ohne Frieden ist es eine Chuzpe, von der andern Seite etwas zu verlangen, das wir selbst absolut verweigern zu tun.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, von der Redaktion gekürzt